Vor einigen Jahren hatte ich das Vergnügen, das Einwanderungsmuseum in New York zu besuchen. Es war eine faszinierende und zugleich gespenstische Erfahrung. Stellt euch vor, ihr versucht, dem Hunger und der Armut zu entfliehen und wandert aus Europa in die USA aus. Nach Wochen auf einem Schiff über unruhige See erreicht ihr New York. Die Behörden führen verschiedene Tests durch und teilen euch dann mit, dass ein Mitglied eurer Familie nicht ins Land gelassen wird und nach Europa zurückkehren muss. Was würdet ihr tun? Geht ihr alle wieder zurück? Schickt ihr die Person allein zurück, oder teilt ihr euch auf? Diese Fragen habe ich mir damals gestellt, und noch heute erinnere ich mich an das Unwohlsein, das ich in dieser Ausstellung in New York empfand, als ich versuchte, mich in diese Situation zu versetzen.
Nun bin ich für ein Wochenende in Antwerpen und besuche das Red Star Line Museum. Dieses Museum beschreibt den Ausgangspunkt der Auswanderungsreise von Europa nach Amerika. Aus Antwerpen sind unzählige Europäer nach Amerika aufgebrochen, getrieben von denselben Gründen wie heute: fehlende wirtschaftliche Perspektiven, Armut und Verfolgung. Das Museum im Hafen ist definitiv einen Besuch wert, und hier habe ich eine der atemberaubendsten Geschichten von unserer Museumsführerin gehört.





Die Geschichte handelt von der Familie Bobelijn. Der Vater wanderte zuerst in die USA aus, während die Mutter mit drei Jungs und der kleinen Irene in Europa zurückblieb. Nachdem sich der Vater in den USA etabliert hatte, holte er seine Familie nach. Die Mutter und vier Kinder bestiegen ein Schiff der Red Star Line Richtung USA. Die Überfahrt in der dritten Klasse war alles andere als eine Ferienreise: beengte Verhältnisse, keine Privatsphäre, eintöniges Essen und vielleicht auch noch Seekrankheit obendrauf. Bei der Ankunft in New York wurde bei der achtjährigen Irene eine ansteckende Augenkrankheit diagnostiziert. Sie durfte nicht in die USA einreisen. Der Rest der Familie hingegen durfte einreisen.

Stellt euch vor, ihr müsstet diese Entscheidung treffen: Am Ufer wartet euer Mann, den ihr seit mehreren Jahren nicht gesehen habt, und ihr müsst entscheiden, ob ihr alle wieder nach Europa zurückkehrt und es später erneut versucht, oder ob ihr die kleine Irene allein zurückschickt. Eine Option, dass die Jungs zum Vater gehen und die Mutter mit Irene zurückkehrt, stand nicht zur Auswahl, da die Behörde minderjährige Jungs nicht allein ins Land ließ. Wie hättet ihr entschieden?
Die Mutter schickte die kleine Irene allein nach Antwerpen zurück. Nach einem Jahr versuchte es Irene erneut, wurde aber wieder abgewiesen und musste zurückreisen. Sie lebte weitere vier Jahre in einer Pflegefamilie, und erst beim dritten Versuch klappte es. Eine wahre Horrorvorstellung für jedes Kind und jede Familie.
Solche Geschichten wiederholen sich wahrscheinlich täglich in abgewandelter Form, und wir können sie uns oft nicht vorstellen. Vielleicht werden unsere Nachfahren in 80 Jahren von den Geschichten von heute erfahren.
Ebenfalls spannend war zu erfahren, dass die Red Star Line eine europäische Vertriebsorganisation für den Billettverkauf hatte. In der Schweiz war das Büro in Luzern. Falls ihr Vorfahren habt, die nach Amerika ausgewandert sind, lässt sich in digitalisierten Archiven nach ihnen suchen.


Antwerpen war für mich eine wahre Entdeckung. Es ist eine Stadt, die eine Reise wert ist. Beispielsweise die vielen Rubens-Bilder in der unglaublich weitläufigen Kathedrale, die lebendige Altstadt, die Gelassenheit trotz der Menschenmassen, die Tatsache, dass im November bis spät in der Nacht draußen gegessen, Karten gespielt, diskutiert und gelacht wird, der Hafen, die Museen, die beeindruckende Bahnhofshalle und die unzähligen spannenden Gebäude in der Stadt, die vielen Restaurants und Museen. Falls ihr ein paar Tage Zeit habt, ist Antwerpen auch bei Nebel sehr empfehlenswert.


