
An dem Tag als Lisa das letzte Mal die Türe zu ihrer Wohnung schliesst, in der sie fast 50 Jahre gelebt hatte, ist ihr ein grosser Stein vom Herz gefallen. Die Wohnung war gekündigt und übergeben. Es gab also kein Zurück mehr. Lisa war erleichtert und der Wegzug Ende Februar war für sie eine unglaubliche Befreiung. Der Einzug in die Seniorenresidenz war ein richtiger Aufbruch in eine bessere Zukunft. Lisa war fast 80 Jahre alt und bezog jetzt ein kleine 2-Zimmer Wohnung mit einer winzig kleinen Küche und einem sonnigen Balkon in der Seniorenresidenz.
Wenn ihr danach war, hat sie gekocht, wenn sie keine Lust zu Kochen hatte, konnte sie im Speisesaal mit allen anderen Bewohnern Frühstücken oder zu Mittag essen. Am Abend ass sie schon Jahrzehnte nicht mehr und ihre Gewohnheiten wollte sie nicht mehr ändern. Schnell fand sie Anschluss und freundete sich mit Liselotte und Hans an, die ein ähnliches Interesse an der Kunst und der Musik wie Lisa hatten.
Als die ersten Nachrichten über das Virus in China erschienen, nahm sie kaum zur Kenntnis und interessierte sich nicht dafür. Als das Virus bis nach Italien vorgerückt ist, wurde das Virus zum Diskussionsthema Nummer eins im Speisesaal. Vor allem weil einige Bewohner Verwandte in Italien hatten und diese berichteten über unfassbare Ereignisse. Kurz darauf informierte die Leitung der Seniorenresidenz, dass Besuche ab jetzt nicht mehr erlaubt sind und dass es ebenfalls nicht mehr erlaubt ist, dass sich die Bewohner (ausser für Spaziergänge ohne Begleiter) ausserhalb der Residenz aufhalten dürfen. Wer das nicht respektieren würde, wird mit sofortiger Wirkung aus dem Heim ausgewiesen. Das war verständlich aber sehr hart. Sehr viele der Bewohner hatten seitdem mit grossen Ängsten zu kämpfen. Diese haben sich bei einigen in Panikattacken verwandelt, die ohne Medikamente nicht in Griff zu bekommen waren.
Lisa war es alles egal. Eigentlich war sie froh, dass sie keinen Besuch mehr bekommen kann. Respektive das stimmte nur teilweise. Ihre Freundinnen hätte sie gerne gesehen. Aber eher verzichtete sie komplett auf Besuche, als dass sie ihre eigene Tochter, Sabrina 53 Jahre alt, empfangen müsste.
Als junge Mädchen war Sabrina wunderhübsch. Grosse blaue Augen, goldiges volles Haar mit Locken, hohe Wangenknochen, eine Bohnenstange mit langen Beinen. Kein Wunder, dass sich viele nach ihr umdrehten und eigentlich auch keine Überraschung, dass sie mit nicht einmal 17 Jahren ein Vertrag als Modell zusammen mit dem abwesendem getrent lebendem sich nie interessierten Vater mitunterzeichnet hatte. Lisa, ihre Mutter war gar nicht so begeistert respektive sie war dagegen. Ihr wäre es lieber, wenn Sabrina die Zeit in ihre Ausbildung investierte und einen guten Beruf erlernte. Aber Sabrina war nicht mehr aufzuhalten. Sie sah sich schon auf den grössten Bühnen in New York, Mailand und London, wo sie die neueste Mode präsentiert und ihr hübsches Gesicht im Blitzlicht der Kameras zum Besten gibt. Der Erfolg verlangt aber nach eiserner Disziplin, weil jedes Gramm mehr auf den Rippen, war gleich einem Desaster. Disziplin war keine Stärke von Sabrina. Ab und zu insbesondere am Abend konnte sie 3 Tafeln Schokoladen auf einmal vertilgen. Anschliessend schloss sie sich im Badezimmer ein und “kotzte” das kürzlich gegessene in die Toilettenschlüssel. Am Anfang machte sie das nur ab und zu und mit der Zeit fast jeden Tag. Am Anfang lief es sehr gut mit den Aufträgen und Sabrina konnte sich so einiges kaufen, wovon andere nur träumen konnten. Mit der Zeit hat sie aber immer weniger Aufträge bekommen und sie wurden auch mager bezahlt. Es quälten sie Versagensängste, schlechte Haut und ein gestörtes Essensverhalten. Sie hatte keine abgeschlossene Ausbildung und nur dank der Unterstützung von ihrer Mutter kam sie über die Runden. Mit der Zeit wurde es immer schlimmer. Ab und zu zog sie von zu Hause aus, aber nach ein paar Jahren, Monaten oder Tagen kam sie wieder mit ihren Koffern zurück zu Mama. Der eigene Misserfolg liess sie an ihrer Mutter raus, weil es diejenigen war, die von Anfang an gegen ihre Karriere als Model war. Ihre Diskussionen und Streitigkeiten, wenn sie mal wieder zu Hause wohnte wurden heftiger und hässlicher.
Lisa hat sich unzählige Male geschworen, dass wenn Sabrina das nächste Mal kommt, wird sie ihr den Zutritt verweigern. Aber sie brachte es nie übers Herz, da sie wusste, dass sie vor dem Obdachlosenheim die letzte Station von Sabrina ist. Je älter sie wurde, umso schlimmer wurde es. Sabrina drohte ihrer Mutter und als sie sie das erste Mal geschlagen hatte, wurde Lisa klar, dass wenn sie die Situation nicht radikal ändert, wird sie ab jetzt regelmässig geschlagen. Die einzige Lösung schien ihr wegzuziehen. Sie suchte sich eine Seniorenresidenz, unterschrieb den Vertrag, kündigte die Wohnung und begann das Mobiliar zu verschenken oder zu entsorgen. Sabrina bekam gar nichts mit, weil sie sich kaum je für ihre Mutter interessiert hatte. Gott sei Dank, war es eine Periode, wo Sabrina wieder irgendwo anders wohnte. Am Tag des Umzuges rief Lisa Sabrina an und teilte ihr mit, dass sie umgezogen ist. Sie weigerte sich die neue Adresse der eigenen Tochter zu geben.
Das Coronavirus hat Lisa Zeit geschenkt um ihrer eigenen Tochter nicht zu begegnen. Vom Tod hatte sie keine Angst.
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