Denke nicht nach, denke vor!

Es ist Februar und für die Jahreszeit viel zu warm. Der ganze Vormittag herrscht ekelhafter undurchsichtiger Nebel. Im Winter kann ich dem Nebel nichts Positives abgewinnen. Es ist grässlich, das Gefühl, in der “Watte” eingehüllt zu sein, für die Seele auf Dauer unerträglich. Der Tag ist anspruchsvoll, die Kunden sind ungeduldig, die Kollegen senden das Versprochene nicht, und es scheint, als gäbe es in der Welt nur Probleme, die sich auch mit viel Kreativität nicht einfach so lösen lassen. Einfach ein Tag zum Vergessen.

An solchen Tagen laufe ich auf den Berg. Ich habe einen kleinen, steilen Berg fast vor meiner Haustür. Ich wähle den steilsten unbefestigten Weg und laufe so schnell ich kann (und ab und zu geht es nicht wirklich schnell). Ich komme ausser Atem, und das ist gut so, weil wenn ich mich darauf konzentrieren muss, genug Luft zu kriegen, um aufzusteigen, sind die Beleidigungen und kleinen Fiesheiten des Tages sowie die grössten Probleme der Welt ziemlich nebensächlich. Eigentlich verschwinden sie, und ich lasse sie unter dem Berg. Das ist der wahre Grund, warum mich der Berg so magisch anzieht. Beim Aufstieg leere ich meinen Kopf und ärgere mich ab und zu darüber, wie konnte ich schon wieder so aus der Kondition kommen und wie eine Waschlampe nach Luft schnappen. Ich schwitze, schnaufe, aber es geht mir wunderbar.

Den Weg, den ich wähle, sehe ich aus dem Fenster. Selten wählt ihn jemand. Auf diesem Weg ist man einsam. Er ist einfach steil, und da er nicht befestigt ist, insbesondere wenn es nass ist, rutscht es und wird noch anspruchsvoller. Ich steige bis zum Waldrand auf. Es dämmert bereits, und die Lichter der Stadt hinter meinem Rücken kann ich nur ahnen. Ich werde mich beim Erreichen des ersten Baumes umdrehen, dann werde ich erst das beleuchtete Städtchen bewundern. Mein Kopf ist bereits leer! Hura, noch nicht einmal oben, und das Ziel ist schon erreicht. Ich höre die Krähen. Ich sehe, wie sie über den Wald fliegen und sich in die hohen Bäume setzen. Es sind viele, sehr viele sogar. Ich finde Krähen grossartig. Mich hat der Rabe der kleinen Hexe sehr gefallen. Ich habe mir aber eine Krähe gewünscht. Ich träumte davon, eine verlassene Krähe zu finden, sie grosszuziehen und mit ihr in einer freien, aber unzertrennlichen Beziehung zu bleiben. Ich weiss, total naiv. Viele Wünsche bleiben Wünsche. In der Schweiz darf man keinen wilden Vogel so gefangen halten. Es ist verboten. Ich wollte die Krähe auch nicht bei mir behalten. Sie wäre frei, aber regelmässig bei mir zu Besuch. Auf ein “Schwätzchen”, sich zugehörig fühlen. Eine Krähe wäre besser als ein Hund oder eine Katze. Krähen sind erfinderisch, sprachbegabt und nutzen Werkzeuge. Mehrere Forschungsprojekte zeigen, dass Krähen sogar ihre Zukunft planen können. Die Krähen können menschliche Gesichter erkennen. So eine Krähe, das wäre etwas Wunderbares.

Aber während ich den Berg hinaufgehe und der Schwarm in der Höhe fliegt, kommt mir bei dem sich verdunkelnden Abend eher Alfred Hitchcock und sein Horrorfilm “Die Vögel” aus dem Jahre 1963 in den Sinn (https://www.youtube.com/watch?v=0fJh2gIBOto), wo die Vögel plötzlich Amok laufen. Was für eine Vorstellung, wenn jetzt dieser Schwarm mich zum Ziel wählt. Meine Fantasie geht los, und ich überlege mir meine eigene Verteidigungsstrategie. Fantastische apokalyptische Bilder tanzen in meiner Fantasie, und ich lasse sie weiterentwickeln und geniesse das Gratis-Kino auf meiner Wanderung. Es ist nur eine kurze Fantasie, und die Krähen machen nicht so ganz mit, weil sie sich wieder in die Bäume setzen und ganz ruhig und still bleiben.

Nur ungern laufe ich zurück in die Stadt. Es ist schon dunkel, und die Stadt leuchtet. Aber mein Kopf ist wunderbar gereinigt, und ich kann mich wieder nach dem Motto richten: Denke nicht nach, denke VOR!

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