Der wahre Sonderfall Schweizerdeutsch (Dialekts): Ein einzigartiges sprachliches Phänomen.

Gestern habe ich an einer Podiumsdiskussion teilgenommen, bei der Schweizerdeutsch diskutiert wurde. Ich spreche Hochdeutsch und, wenn nötig, auch Dialekt. Ich habe Berner Deutsch im Kanton Zürich gelernt, daher ist mein Schweizerdeutsch eine Mischung aus beiden. Das amüsiert Kenner, aber für mich ist es frustrierend. Ältere Personen wechseln sofort zu miserablem Hochdeutsch, sobald sie mein Schweizerdeutsch hören, was mich anfangs sehr demotivierte. Mittlerweile nehme ich es jedoch gelassen.

Ich erinnere mich, wie meine gute Freundin, die Germanistik an der Karls-Universität in Prag studierte, nach der Begegnung mit meinem Schweizer Freund Zweifel äusserte, ob er überhaupt Schweizer sei. Sein Hochdeutsch war in ihren Augen äusserst schlecht, und er wirkte auf sie wie ein Hochstapler. Doch das war er nicht. Was kann man von einem “Büezer Bueb” aus einem abgelegenen Tal erwarten, der mehr Zeit mit Sport als mit Büchern (wenn überhaupt) verbrachte?

Während meines Mutterschaftsurlaubs (der damals unbezahlt war) habe ich für ein Marktforschungsinstitut gearbeitet. Das bedeutete lange Abende in unserer Küche, wo ich gemäss Vorgaben durch die ganze Schweiz telefonierte und vorgegebene Fragen stellte. Ich erhielt lange Listen mit Namen und Telefonnummern und rief diese Personen mit denselben Fragen an. In einer Zeit, in der Marktforschungsinstitute selten waren und solche Umfragen rar, waren die Leute sehr gesprächig. Sie zu einer einfachen Antwort – Ja, Nein, Weiss ich nicht – zu bewegen, war fast unmöglich. Telefongespräche ohne Antworten gab es damals nicht. Die Angerufenen fühlten sich geehrt, dass jemand ihre Meinung hören wollte und so hörte ich mir lange Ausführungen zur Qualität der Fernsehprogramme von gestern an. Anfangs verstand ich nur Bahnhof, insbesondere wenn ich in einer dieser kleinen Ortschaften in den Bergen landete. Vielleicht waren meine damaligen Ergebnisse, ob sie “ja” oder “nein” gesagt hatten, verfälscht. Doch im Laufe der Zeit verbesserte sich mein Verständnis. Ich bin kein Sprachgenie. Ich erinnere mich an eine Notiz meiner Sprachlehrerin auf einem meiner Diktate – “Liebe Michaela, ich denke, ein Affe hätte es besser schreiben können” – und darunter eine ungenügende Note. Trotzdem liebe ich Sprachen und ihre Melodie. Schweizerdeutsch klingt für mich sehr melodisch und meine Abende in der Küche bei den Befragungen haben mir geholfen, verschiedene Dialekte zu verstehen. Die gesprochenen Dialekte wirkten wie Geheimsprachen, unzugänglich für Nicht-Eingeweihte und es gab kaum Lehrbücher.

Ich kam in den Saal der Kaufleute mit meinem Jüngsten und der Saal war fast voll. Neben einem älteren Mann waren noch Plätze frei. Ich fragte höflich auf Schweizerdeutsch, ob der Platz noch frei sei und er nickte. Dann fragte ich, ob es für ihn in Ordnung sei, wenn ich für den Abend seine Nachbarin wäre. Es kam keine Antwort, nur undefinierbare Stille. Die Plätze waren nicht nummeriert und es gab freie Platzwahl. Eigentlich wollte ich nur höflich sein. Dann sagte er sehr bedacht, dass er mir die Frage erst nach der Veranstaltung beantworten könne. Smalltalk sieht anders aus. Auch er antwortete auf Schweizerdeutsch. Ich sagte ihm, dass ich sicher sei, eine gute Nachbarin zu sein. An seiner Sprache erkannte er jedoch kein lupenreines Schweizerdeutsch und er begann, holpriges Hochdeutsch zu sprechen. Sein Sprachwechsel und die fehlende Leichtigkeit in seinen Antworten haben mich leicht genervt, aber ich liess es mir nicht anmerken. Er wollte wissen, wie ich wisse, dass ich eine gute Nachbarin sein werde. Ich antwortete, dass ich die Zukunft voraussagen könne. Da taute er endlich auf und stieg ins Gespräch ein. Dann schlug er vor, mit mir ins Kasino zu gehen. Ich fragte, warum und er antwortete, um Geld zu gewinnen. Ich wollte wissen, was er mit dem Geld machen würde. Er versteifte sich sofort und antwortete ganz ehrlich, dass es eine private Sache sei, die er mir nicht verraten werde. Ich gab auf.

Schweizerdeutsch ist eine wunderbare Sache, aber man muss aufpassen. Viele, wenn nicht die Mehrheit der Schweizer, sind unfähig, unverbindlichen Smalltalk zu führen. Anders als in den USA, wo jeder mit jedem unverbindlich ins Gespräch kommt, wirkt so etwas in der Schweiz verdächtig. Das erinnert mich an eine Geschichte von letzter Woche. Als ich nach Hause kam, stand eine blonde, schlanke Frau mittleren Alters vor unserem Haus und rief laut “Honza”. Das ist ein typisch tschechischer Name, aber in falscher Form. Sie müsste ihn “Honzo” nennen. Das konnte sie als Schweizerin, die der tschechischen Sprache nicht mächtig war, nicht wissen. Ich drehte mich um und hielt Ausschau nach Honza. Ein sympathischer Herr auf der anderen Strassenseite kam eilig herüber. Ich sagte ihr, dass es mich freue, dass es einen Honza gibt, sie schaute mich mit grossen Augen an. Da kam Honza schon zu uns und ich grüsste ihn auf Tschechisch. Ihre Antwort hat mich geradezu schockiert. Sie sagte: “Ahoj Honza” (auch hier wäre auf Tschechisch “Honzo” richtig), “die Frau da kenne ich nicht” und zeigte mit verächtlichem Blick auf mich. Ich drehte mich um und ging nach Hause. Spontane Gespräche mit Schweizern, auch auf Schweizerdeutsch, sind schwierig.

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