
Wenn ich aus dem Fenster schaue, ist alles noch da. Der See, die Rigi, die Altstadt. Es hat sich, abgesehen von der Natur, nicht wirklich viel verändert im Vergleich zu der Zeit vor Corona. Ich sitze am Abend am gleichen Tisch, schlafe in dem gleichen Bett und benutze die gleiche Tube der Zahnpasta wie vor 8 Wochen und es ist DOCH alles anderes. Aber wirklich alles. Die Suche nach dem Vertrauten, dem Altbekannten und den Traditionen ist schwierig, weil sie scheinen ohne Vorwarnung vom einen auf den anderen Tag zu verschwinden. Und das tägliche Zähneputzen zähle ich nicht zu meinen Traditionen.
Ich habe das Gefühl, als ob wir alle in einem grossen Gummiball eingeschlossen werden. Ein Gummiball, aus dem man nicht aussteigen kann, ein Ball, der sich bewegt und wir alle wissen nicht wirklich wohin die Reise geht.
Ich beobachte sehr viel Solidarität im Moment. Ich sehe Leute, die sich für die Schwächeren und Verletzlichen einsetzen. Leute, die anderen Mut und Zuversicht mit Worten und kleine Gesten geben. Ich sehe aber auch die andere Seite. Diejenigen die vor allem für sich selber optimieren und nach dem Motto «nach mir die Sintflut» leben. In den vielen Gesprächen, die ich in den letzten 8 Wochen geführt habe, gab es alles – Kampfgeist, Freundschaft, Angst, Verzweiflung, Lachen, Aufmunterung, echte Freundschaft. Das war schon vorher alles da, aber jetzt ist es alles sehr viel intensiver geworden und authentischer. Die Gefühle, die Ängste, der Egoismus, das alles hat die Schutzhülle verloren und präsentiert sich entblösst und aufdringlich.
Auch mir machen Krisen Angst. Aber nie so viel, dass mich es mein Handeln lähmt. Im Gegenteil, ich glaube, ich bin für Krisen gemacht. Sie setzen in mir Energie frei, wie wenn sich das innere Energiereservoir plötzlich ausdehnt und im Stande ist die Ausnahmesituation zu bewältigen. Aber die Intensität hat seinen Preis. 12 – 13 Stunden intensive Krisenarbeitstage ohne Pause hält keiner auf die Dauer aus. Auch ich nicht, obwohl ich am Morgen Yoga mache und am Abend im Wald spazieren gehe. Irgendwann muss ich auch selber eine Vollbremsung machen. Mich von allen Problemen, die es zu lösen gibt, entfernen und einfach einen Tag mich mit etwas ganz anderem beschäftigen – den Keller aufräumen, mit dem Fahrrad um den See fahren, einfach den Kopf leer kriegen. Ich liebe es Probleme zu lösen. Das ist meine Lebensberufung. Einen pragmatischen Weg aus einer verzwickten Situation zu finden, macht mir unheimlich viel Spass. Je schwieriger umso besser und es macht mir nicht aus, wenn es lange dauert. Die Lösung der Corona-Situation fordert viel. Von mir, von jedem einzelnem, von uns allen.
Ich bin trotz allem unheimlich privilegiert. Ich sitze in meinem fantastischen Homeoffice mit Weitsicht, bin den ganze Tag mit meinem Jüngsten (fast 24 Stunden wie damals als er zur Welt kam) und so gut wie nie allein. Kann ihm anfassen und streicheln, kann ihn in die Arme nehmen, wen er es braucht und trotzdem fühlen wir uns beide Einsam. Sehr sogar. Wie geht es denn wohl allen denen, die wirklich Allein und Einsam sind, deren Hand niemand berührt und berühren darf, auch wenn sie in Sterben liegen. Ich telefoniere mehrmals am Tag mit meiner Mutter, auch wenn es sehr kurz ist. Nur um ihr einen guten Morgen und eine gute Nacht zu wünschen, zu fragen was sie sich zu Mittagessen gekocht hat und um mich zu vergewissern, dass sie der Lebenswille nicht verlässt, weil sie allein in ihrer Wohnung sitzt und ihre Sorgen nur telefonisch teilen kann.
Ich wünsche uns allen, dass es vorbei geht – schnell und schneller auch wenn ich rational denk und ahne, dass wir immer noch am Anfang sind und diese Situation noch ewig dauern kann. Ich sehne mich nach Normalität.
Um ein Stück der alten Traditionen hervorzuholen, habe ich gestern am Morgen die letzte Weihnachtskekse aus der Gefriertruhe geholt. Es waren nicht viele. Genau noch 12 Stück. Ich packte sie sorgfältig aus und legte sie auf das Küchenholzbrett. Sie waren hart wie Stein, eben gefroren. Dann ging ich arbeiten. Als ich erst um 2 Uhr am Nachmittag in die Küche kam (vorher erlaubten mir es alle meine Verpflichtungen nicht), lagen fein säuberlich aufgereiht 6 Stücke da. Mein Jüngster hat sich Mittagessen gemacht und ganz fair das Dessert aufgeteilt. 6 für mich und 6 für ihm.
Die Kekse waren sehr lecker. Sie erinnerten an die tollen Tage der letzten Weihnachten. Sie haben mir sehr gut getan, nicht nur geschmacklich sondern auch seelisch.
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