Mein Stiefvater Jan ist gestorben. Er war 84 Jahre alt und hatte die letzten 5 1/2 Jahre eine tödliche Krankheit in sich getragen. Wir alle wussten, dass er stirbt. Man kann mit seiner Krankheit 1 bis maximal 10 Jahre überleben. Und obwohl ich das wusste, realisierte ich: auf den Tod kann man sich nicht vorbereiten. Sein Tod traf mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Der Boden wurde mir unter den Füssen weggezogen und ich fühlte mich so hilflos wie noch nie in meinem Leben. Ich bin eine Macherin. Ich bin es mir gewohnt, Probleme zu lösen. Ich bin diejenige, die erfolgreich Wege aus aussichtslosen Situationen sucht und findet und plötzlich war da nichts, was ich hätte machen können. Eine unendliche Trauer erfüllte mich. Ich funktionierte und half meiner Mutter mit allem, was es in so einer Situation braucht, aber irgendwie war es alles mechanisch.
Für das Begräbnis, das 7 Tage nach seinem Tod stattfand, wünschte sich meine Mutter, dass ich die Abschiedsrede halte. Und ich konnte nicht NEIN sagen. Ab dem Zeitpunkt, als ich ihr es versprach, begann ich mich intensiv vorzubereiten. Ich erinnerte mich an all die Sachen, die er mir je über sich und seine Eltern erzählt hatte und ich begann, die kleinen Geschichten zu einem Bild zusammen zu setzen. Ich stellte mir eine Geschichten-Collage vor, die ihn am besten charakterisierte. Und je mehr ich an der Rede arbeitete, umso schlechter ging es mir. Er war ein herzensguter Mensch, immer gut gelaunt. Er hat Leute gerne gehabt und diese zahlten es ihm mit Liebe zurück. Er konnte keiner Fliege etwas zuleid tun. Er war genügsam und lustig, fleissig und sehr geschickt. Er war ein begnadeter Handwerker und ein wunderbarer Pianist. Er war meiner Mutter ein sensationeller Ehemann. Je mehr mir dies alles bewusst wurde, umso grösser wurde meine schon unermesslich grosse Trauer. Das Gefühl jemand wahnsinnig Wertvollen für immer verloren zu haben, fühlte sich wie eine Bleikugel an, die an meinem Bein befestigt wurde.

Ich übte die Rede während ich joggte, weil ich in Bewegung, am besten früh am Morgen ein bisschen entspannen konnte. Ich übte die Rede, wie ich meine Reden in der Vergangenheit übte, aber fast immer sind mir die Tränen gekommen. Ich habe immer mehr Angst bekommen, dass ich meine Rede am Tag des Begräbnisses nicht zu Ende vortragen können werde, weil mir die Tränen die Sprache ersticken. Ich wusste nicht, wie man sich gegen solche Trauer wappnen könnte.
Das Begräbnis war schlimm. Offensichtlich kannten und schätzten ihn so viele Leute, dass die Stühle in der Abdankungshalle nicht ausreichten. Viele Leute, die sich von ihm das letzte Mal verabschieden wollten, mussten stehen. Der Platz war knapp und all die mitgebrachten Blumen, die rund um seinen Sarg gelegt wurden, wirkten wie eine bunte, farbige Wiese. Als das erste Musikstück, nach dem ich meine Rede halten sollte, zu spielen begann, musste ich mir die Lippen blutig beissen in der Hoffnung, dass der Schmerz die Trauer und die in mir aufsteigenden Tränen besiegen würde. Es ist mir eher schlecht als recht gelungen. Noch nie in meinem Leben ist mir eine Rede so schwergefallen. Wenn meine Mutter nicht da gewesen wäre, die sich wünschte, dass ich diese Rede halte, wäre ich wie ein Feigling weggelaufen. Der Schmerz war unerträglich. Irgendwie habe ich es doch noch geschafft, mich zu erheben, nach vorne zu gehen und meine Rede vorzutragen. Jan hätte sich sicher nicht gewünscht, dass ich eine traurige Rede halte. So habe ich einige der Geschichten erzählt, die er mir selber erzählte hatte, wie diese hier vom vergessenen Hochzeitstag.
Ich erzählte von der Beziehung zu seiner Mutter und seiner einmaligen Beziehung zwischen ihm und meiner Mutter. Zunächst sah ich die vielen Gäste vor mir gar nicht, ich sah eigentlich ihn, damals, als er mir die Geschichten erzählte. Erst später wurde mir bewusst, dass, obwohl keine seiner Geschichten traurig waren, viele der Anwesenden weinten, während ich sprach. Ich weinte nicht und schaffte es, die Rede zu Ende halten. Ich habe meinen Auftrag erfüllt. Aber danach war ich hundemüde, wie wenn ich einen Marathon in Rekord Zeit gelaufen wäre. Mein Körper und mein Geist wurden von Trauer und Müdigkeit als Geisel genommen.
Danke, Danke für Alles und eine gute Reise.
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