
Der Nachbar meiner Mutter ist krank. Sehr krank. Seine Zeitrechnung bewegt sich nicht mehr in Jahren, sondern in Wochen. Seine Frau pflegt ihn. Ihr Hund spürt es und ist am liebsten draussen vor dem Haus. Zeit für lange Spaziergänge, wie er sich das in der Vergangenheit gewohnt war, hat niemand. Es tut mir leid für den Nachbarn, seine Frau und den Hund. Helfen kann ich nicht oder nur wenig. Jetzt bin ich anstelle des Skifahrens eine Woche bei meiner Mutter. Fiese Polarluft schnürt diesen Teil Europas ein und die Temperaturen liegen tief im Minusbereich. Erträglich macht es die Sonne, die von morgens bis nachmittags in dem kleinen Dorf scheint und eine kalte, fantastische Landschaft zaubert.
Ich gehe rennen. Da das Dorf am Fuss eines kleinen Berges liegt, führen fast alle Wege zunächst einmal nach oben. Da gibt es schnell Wärme. Ich denke mir, warum alleine laufen, wenn ich den Hund mitnehmen kann? Er ist 4 Jahre alt, kräftig und läuft gerne. Nur Befehlen verlässlich zu folgen, ist keine seiner Stärken. Ohne Leine hätte ich mich nicht getraut, ihn mitzunehmen. Die Nachbarin hat eine Leine, die sich sehr gut zum Laufen eignet. Ich befestige die Leine um das Teil und dem Hund am Halsband. Er war schon mit mir in der Vergangenheit unterwegs. Jetzt schaut er die Nachbarin an, die keine Anstalten macht, mitzukommen, mit fragendem Blick, und nur widerwillig lässt er sich zum Gehen bewegen.


Wir rennen. Der Hund ist viel schneller als ich. Er ist aber nicht dumm und hat keine Lust, dass ihm das Halsband schmerzhaft den Hals zusammenschnürt. Also passt er sich ohne grosse Probleme meinem Tempo an. Wie der Berg immer steiler wird, passt er sich ohne Mühe meiner Geschwindigkeit an. Kluges Tier! Das Einzige, was mühsam ist, ist, dass er zu Beginn von links nach rechts und wieder zurück rennt, was mir das Leben nicht erleichtert. Klar muss er an vielen Stellen markieren, aber er ist so schnell und die Leine so lang, dass es kaum stört. Nach einem Kilometer sind wir ein eingespieltes Team. Der Wald ist vereist, still und wirkt verlassen. In der Stille sind jedoch leise Geräusche des Holzes zu hören. Sonst weit und breit kein Tier, kein Piepen, keine Stimme. Dann, etwa nach der Hälfte, erscheint plötzlich aus dem Nichts ein Mann mit einem Korb. Ich denke mir, dass es fast wie im Märchen „Marie und die zwölf Monate“ ist. Marie wurde mitten im Winter von ihrer bösen Stiefschwester in den Wald geschickt, um Blumen zu sammeln. Wer hat wohl diesen Mann geschickt? Was kann er dann sammeln? Ich halte an und frage ihn. Er sagt, dass er Pilze sammelt und zeigt mir einige wenige Pilze, die kaum den Boden in seinem Korb bedecken. Das kann ich kaum glauben. Ich hätte nicht gedacht, dass es Pilze gibt, die man Mitte Winter sammeln kann. Lernen kann man immer.
Wir laufen weiter, die Strasse entlang, und plötzlich hält eines der sehr wenigen Fahrzeuge, die wir heute gesehen haben, an. Eine Frau steigt aus, und der Hund sieht sie mit offensichtlicher Begeisterung an. Sie fragt mich, ob wir Hilfe brauchen. Alle in der Umgebung wissen, wie schlecht es dem Nachbarn geht, und alle kennen den Hund. Viele hätten gerne geholfen. Nur dem Nachbarn, glaube ich, kann niemand mehr helfen. Nein, Hilfe brauche ich keine. Sie steigt wieder ein und verschwindet. Plötzlich bleibt der Hund stehen und weigert sich, weiter zu rennen. Es ist offensichtlich, dass er etwas riecht. Ich halte die Leine und schaue in die Richtung, in die er wittert. An einem niedrigen Ast hängt ein von Blut verschmierter Tierhautrest. Es lässt sich nur schwer sagen, von welchem Tier es mal war. Den Hund von der Fundstelle wegzuziehen, erfordert Kraft, da gutes Zureden nichts nutzt.
Wir schliessen den Kreis und rennen nach Hause. Der Wald ist magisch schön. Ich habe feuerrote Wangen vom Frost, eine ruhige Seele und schmerzende Waden. Ich bin schon lange nicht mehr auf diesen Berg gerannt. Der Hund scheint mit mir zufrieden zu sein. Die Nachbarin ebenfalls.