Büchermord

Ich bin umgezogen. Im Büro vom 2ten in den 5ten Stock. Man kann es als kometenhaften Aufstieg bezeichnen, weil der 5te Stock ist der oberste Stock in unserem Gebäude. Und zur gleichen Zeit von einer Stadt in eine andere. Jeder Umzug bedeutet Trennung. Ich bin eine Sammlerin und im Verlaufe der Jahre haben sich unzählige Sachen und materialisierte Erinnerungen angesammelt. An beiden neuen Orten habe ich weniger Platz als bis anhin und konnte nur wenig mitnehmen (Möbel schon gar keine). Das bedeutete, etwas muss weg. Es hat Wochen gedauert, mich von dem, was ich lieb gewonnen hatte, zu trennen. 

Stellt Euch das bildlich vor: Ich stehe vor meiner grossen Bibliothek und nehme jedes Buch wieder in die Hand. Ich merke, dass ich bestimmte Bücher seit mehr als 20 Jahren nicht mehr angefasst habe, ausser, um sie abzustauben. Brauche ich so ein Buch? Werde ich es nochmals in meinem Leben lesen? Damals habe ich es gelesen, aber heute weiss ich nur sehr vage, um was es gegangen ist. Aber bei vielen dieser Bücher kommt eine Erinnerung, unter welchen Umständen ich das Buch gelesen hatte. Vielleicht war es im Sommer während der Schulferien. Ich pflegte eine Zeit lang in unseren Apfelbaum zu klettern und in den Ästen sitzend Bücher zu lesen. Plötzlich mit dem Buch in der Hand, ist der Geruch der reifen Sommeräpfel wieder da. Die Zeit, die ins letzte Jahrtausend gehört, erscheint in der Erinnerung so, als ob es gestern gewesen wäre. Wenn ich jetzt dieses Buch weggebe, geht die Erinnerung verloren.

Früher waren mir meine Bücher heilig. Im Falle eines Feuers hätte ich wahrscheinlich versucht, sie alle zu retten. Meine Kinder wussten, dass sie viele Freiheiten haben, aber sollten sie eines der Bücher beschädigen, bemalen oder sonst wie verunstalten, wird es krachen. Nur einmal hat meine Älteste als 3-jährige ein Bild in eines meiner Bücher gemalt. Ich bin dann ausgeflippt und sie realisierte, dass sie meine Achillesferse getroffen hatte. So klug wie sie ist, hat sie es nie mehr wiederholt.

Wenn ich mich aber jetzt von einem Buch trenne, was mache ich mit ihm? Früher konnte man gelesene Bücher verkaufen oder verschenken. Das geht heute nicht mehr, weil niemand sie möchte. Dazu sind viele meiner alten Bücher in Sprachen, die man hier in der Schweiz nur sehr selten hört und so gut wie nie als Bücher verkauft. Darum ist der einzige Weg, heute Bücher zu entsorgen, sie ins Altpapier zu geben. Man kann aber nicht das ganze Buch ins Altpapier geben. Die Bücherdeckel müssen von den Seiten getrennt werden. Die Deckel lassen sich mit einem Messer abschneiden.

Obwohl ich heute bereit bin, mich von vielen Büchern zu trennen – denn lesen werde ich sie nie mehr – einen Mord am Buch, das heisst ihm ein Messer in den Rücken zu stossen, das kann ich aber nicht machen. Sehr brav und sehr grosszügig, habe ich viele Bücher aussortiert. Wohl war mir dabei nicht. Ich wusste doch, dass sie zur Vernichtung bestimmt sind. Mein Herz weinte aber ich setzte die Liquidation fort. Ich konnte es aber auch nicht an einem Stück,weil es mir emotional sehr zusetzte, sondern ich musste es nach und nach tun. Darum hat das Aussortieren Wochen gedauert. Die Bücher dann mit dem Messer verletzen, konnte ich persönlich nicht. Da musste ich um Hilfe bitten. Zuschauen habe ich ebenfalls nicht gekonnt. Das hat zu viele Schmerzen verursacht. Jetzt bin ich umgezogen. Ich habe alle Kleider, mein Büro ausgepackt. Die Bücher noch nicht. Ich weiss, dass die umgezogenen Bücher auf mich böse sind, obwohl sie überlebt haben. Ich verstehe sie, schlussendlich haben sie viele Bekannte verloren. Ich trauere ihnen ebenfalls nach.

One thought on “Büchermord

Leave a Reply

Fill in your details below or click an icon to log in:

WordPress.com Logo

You are commenting using your WordPress.com account. Log Out /  Change )

Facebook photo

You are commenting using your Facebook account. Log Out /  Change )

Connecting to %s