
Ich war zum Abendessen verabredet. Kaum im Restaurant angekommen, läutete mein Telefon, und meine beste Freundin erklärte mir, dass sie im Stau steckte und mindestens eine halbe Stunde zu spät kommen würde. Das ist nichts Ungewöhnliches und passiert ihr fast jedes Mal. Ich regte mich nicht auf. Eigentlich wollte ich meine E-Mails lesen, doch die Konversation am Nebentisch zog mich in ihren Bann und faszinierte mich. Ich hörte zu. Die Lautstärke der Unterhaltung machte es leicht, ohne jegliche Anstrengung alles zu verstehen. Hier ist, was ich mitbekommen habe:
Norma und Thomas haben sich an der Universität kennengelernt. Beide studierten Jura. Nach ihrem erfolgreichen Abschluss absolvierten sie noch das Anwalts-Patent. Sie zogen zusammen und planten ihre gemeinsame Zukunft. Vereinbart waren zwei Karrieren und das Teilen der familiären Pflichten. Es ist nun 33 Jahre her, dass sie geheiratet haben. Im ersten Jahr ihrer Ehe kam ihr Sohn zur Welt, doch er wurde mit einem Herzfehler geboren. Bis zu seinem dritten Lebensjahr wurde er dreimal operiert. Diese Zeit war extrem schwierig für alle, da es lange unklar war, ob der Junge überleben würde und ob bleibende Schäden in seiner Entwicklung zu erwarten seien. An eine Rückkehr von Norma in ihren anspruchsvollen Beruf war bei all den Arztterminen nicht zu denken. Norma blieb zu Hause und kämpfte mit aller Kraft um das Leben und die Gesundheit ihres Sohnes. Nach vier Jahren konnte man sagen, dass sie es geschafft hatte. Kurz danach kam erst eine Tochter, dann noch eine zweite Tochter zur Welt. Mit drei Kindern, von denen eines gesundheitlich nicht ganz unproblematisch war, war es im Schweizer Betreuungssystem undenkbar, dass Norma in die Berufswelt zurückkehren konnte.
Am Anfang, nach der Geburt des ersten Sohnes, engagierte sich Thomas stark und unterstützte Norma, indem er einige Arzttermine mit ihr wahrnahm. Doch das hielt nur so lange an, bis klar war, dass der Junge überleben würde. Danach reduzierte er sein Engagement stark, und schließlich war es Norma, die zur Familienmanagerin wurde, während er das Geld verdiente. Thomas war ein ausgezeichneter Jurist und verdiente viel Geld. Die Termine, die die Familie betrafen, organisierte dann ausschließlich Norma. Thomas war nicht ein einziges Mal bei einem Schultermin. Das Leben der letzten 33 Jahre von Norma und Thomas verlief zwar im gleichen Raum, aber wie in parallelen Welten.
Mittlerweile sind alle drei Kinder ausgezogen. Der Sohn arbeitet, und die beiden Mädchen studieren noch, aber sie wohnen nicht mehr zu Hause. Der Auszug des letzten Kindes traf Norma hart. Der Alltag von Norma und Thomas sah immer gleich aus: Am Morgen machte sich Thomas für die Arbeit fertig, küsste Norma auf die Stirn und verschwand ins Büro, ohne zu sagen, wann er nach Hause kommen würde. Norma kochte das Abendessen, aber immer öfter aß sie allein, da Thomas bis spät in den Abend arbeitete. Wenn er schließlich nach Hause kam, war er müde und hungrig und hatte keine Lust auf eine Unterhaltung. Er aß das Abendessen, ohne sich zu bedanken, und schaute dann Sport im Fernsehen. Danach küsste er Norma auf die Stirn und ging schlafen. Norma räumte die Küche auf und ging dann auch ins Bett.
Auch am Wochenende unternahmen sie nicht viel zusammen, denn Thomas wollte Sport treiben, und für Kultur interessierte er sich nicht wirklich. Norma fühlte sich immer einsamer.
Das war der allgemeine Hintergrund, den ich verstanden habe. Die eigentliche Konversation drehte sich jedoch darum, dass Norma am Wochenende Thomas die Scheidung vorschlug. Sie hatte die Scheidungspapiere vorbereitet, einen Vorschlag zur Aufteilung des Vermögens und eine Lösung der Wohnsituation. Thomas war schockiert und völlig unvorbereitet. Norma erzählte ihrer Freundin, dass er immer wiederholte, er verstehe überhaupt nicht, warum sie sich scheiden lassen wolle. Sie hätten doch ein tolles Leben. Norma fragte sich, ob sie Thomas zu wenig gesagt hatte, wie unglücklich sie mit ihrem gemeinsamen Leben war.
In diesem Moment kam meine beste Freundin an, und ich hörte den weiteren Verlauf der Konversation am Nebentisch nicht mehr. Ich weiß nicht einmal, ob Thomas die Scheidung akzeptiert hat. Ganz ehrlich, ich habe Normas Bedürfnis nach Veränderung vollkommen verstanden.
