
Ich fahre nach Bern. Der Zug ist wie fast immer voll. Gerade ist die Meldung gekommen, dass man die Sitze nicht mit Gepäck belegen sollte. Eben der Klassiker. Aber da, wo ich bin, sind alle Sitze voll mit sitzenden. Wenn man mit so viel Leuten auf engem Raum für eine bestimmte Zeit eingesperrt ist, kann man sich den Gesprächen nicht entziehen. Selbstverständlich kann man sich mit Kopfhörer schützen. Heute habe ich keine Lust dazu. Wenn ich darüber nachdenke, bin ich ein sprachliche Voyeur. Oder gibt es ein eigenständiges Wort dafür? Ich weiss es nicht.
Auf der Reise nach Bern, sitzt vis a vis mich eine junge Frau mit Kopfhörer und unterhält sich mit jemandem am Telefon. Die zweite Person kann ich nicht verstehen, aber es ist umso interessanter die nicht gehörte Antworten sich einfach vorzustellen. Die junge Frau beschwert sich über ihren Chef. In der Vergangenheit war er inspirierend und sie war sehr froh, als sie zu seiner Stellvertreterin geworden ist. Mittlerweile findet sie ihm aber als deplatziert für seine Rolle. Als ein Dinosaurier der sich nicht weiter entwicklet hatte. Sie selber aber schon. Offensichtlich informiert er sie zu wenig oder fast nicht über die Entscheide in der Firma und sie erfährt es wie alle andere Angestellte. Der Abbau des Personals, gemäss seine Begründung wegen Erhöhung der Zölle durch Donald Trump die er letzte Woche kommuniziert hat, fand sie als Frechheit. Warum gehört sie zu Kader , wenn er sie für Entscheidungen nicht beizieht. Sie beklag sich über seinen Egoismus, weil er nur auf sich denkt und für die Abteilung sich kaum einsetzt. Er hat auch kaum konkrete Ideen, wie sie gemeinsam die Situation verbessern konnten und scheint ratlos und verloren. Das schürt bei seinen Leuten zusätzliche Angst. Wenn der Chef nicht mal weiss, was zu tun, muss es schlimm sein.
Ich höre gespannt, dass die junge Frau überlegt, dass sie trotz der offensichtlich sehr schwierigen Situation, seine Rolle gerne übernommen hatte, da sie Ideen hat, wie sie es ändern konnte. Ihre Boss hört ihr aber nicht zu. Sie überlegt, ob sie mit dem Boss von ihrem Boss sprechen sollte, aber hat bedenken, weil die beide beste Kumpel sind. Sie sind gegenseitig Pate der eigenen Kinder. Was für Chance wird sie haben? Antworten höre ich nicht, aber sie scheinen kurz zu sein. Und als die junge Frau realisiert, dass sie kaum Chance hat, die Aufgabe zu übernehmen, wechselt sie Richtung ihre Überlegungen und beginnt darüber zu sprechen, sich eine neue Stelle zu suchen, mit einem Chef zu dem sie aufschauen konnte, von dem sie was lernen konnte, der ihren moralischen Ansprüchen standhalten konnte.
Wir kommen in Bern an. Ich muss aussteigen, sie fährt weiter. Ich weiss nicht, was sie schlussendlich gemacht hat. Schade, es hatte mich interessiert. Aber ich verstehe sie gut. Wollen wir sofern wir ein Chef haben, nicht jemandem , der besser ist als wir selber?