
Ich wohne eine halbe Stunde von Zürich entfernt. Es ist ein toller Ort mit sehr liebenswürdigen Menschen und einem fantastischen See. Ich habe eine unglaubliche Panorama-Aussicht über die Berge und den See. Ein Blick aus dem Fenster ersetzt das Fernsehen. Außer zwischen November und Februar. Dann plagt uns der Nebel. Aber was für ein Nebel! An manchen Tagen ist der Nebel so weiß und dicht, dass er mich an Kinderbrei erinnert. Kinderbrei zu essen ist eine meiner schönsten kindlichen kulinarischen Erinnerungen. Doch von Kinderbrei umgeben zu sein, ist einfach nur ekelhaft. Der Nebel ist sehr hartnäckig. Ohne Probleme hält er sich den ganzen Tag bis in die Nacht. Man sieht nichts. Gar nichts. Nur Grau, Weiß oder Schwarz. Den Unterschied zwischen Tag und Nacht erkennt man an der Helligkeit. Nach ein paar Stunden in diesem dicken Nebel wird mir physisch übel. Nicht nur ein bisschen, sondern richtig übel. Zwei Dinge helfen dann: Bewegung und Sonne.
Jetzt hält sich der Nebel schon seit ein paar Wochen. Er ist nicht so undurchsichtig, wie er es im Februar sein kann, aber er ist Tag für Tag ohne Pause da. Ich halte es nicht mehr aus. In der Schweiz kann man dem Nebel mit einer 1,5-stündigen Fahrt entkommen. Also bin ich nach Interlaken gefahren. Ich musste in die Höhe, weil die Nebelgrenze bei 1100 m liegt und darüber herrliche, wolkenfreie Sonnentage zu finden sind. Am Morgen war es noch dunkel, und das Erwachen des Tages erkannte man nur am Wechsel von Schwarz-Milchig zu Grau-Milchig. Ich fuhr los, und nach etwa einer Stunde Fahrt kam der erste Sonnenstrahl, wie ein Guten-Morgen-Kuss. Man sieht den dichten Nebel, der unten wie ein Kissen zurückbleibt, und erfreut sich an den immer noch grünen Hängen der Berge (der Schnee kommt bald) und an der Sonne.
Eine Wanderung zum Gemmenalphorn auf 2061 m Höhe liegt vor mir. Offenbar hatten viele andere die gleiche Idee – von einem einsamen Aufstieg kann keine Rede sein. Es erinnert eher an eine Völkerwanderung. Es fühlt sich aber gut an, weil alle grüßen, wie wenn man die Nachbarin trifft. Alle, die heute unterwegs sind, scheinen glücklich zu sein und lachen sich gegenseitig an. Was für ein genialer Tag! Meine Atmung meckert ein bisschen, insbesondere auf dem letzten Teil der Strecke, weil es wirklich steil ist. Ich habe jedoch keine Lust, langsamer zu werden. Vielleicht gibt es morgen Muskelkater; wir werden sehen. Mit jedem Schritt und jedem Tropfen Schweiß geht es mir besser. Es ist angenehm warm, die meisten laufen im T-Shirt, ein Pullover reicht, und die Jacke kann man getrost im Rucksack lassen.
Am Anfang der Wanderung stoße ich auf ein altes Haus. Alle Fenster und Türen sind offen, und aus dem Inneren klingt es nach Abbrucharbeiten. Vor dem Haus steht eine Mulde mit altem Holz und sonstigen Resten. Ich bin neugierig und schaue hinein. Gerade wird die dünne Holzwand zwischen Küche und Wohnzimmer abgerissen. Für die Isolation wurden damals Zeitungen verwendet. Ich hebe eine Zeitung vom Boden auf und sehe, dass sie aus dem August 1945 stammt. Die Zeitung ist perfekt erhalten, und ich blättere sie durch. Sie ist viel dünner als heutige Zeitungen, und der wesentliche Teil besteht aus Anzeigen. Ich lese eine Immobilienanzeige, in der eine Villa mit 9 Zimmern, 2000 m² Garten und wunderbarer Aussicht in Zürich für 220’000 Franken angeboten wird. Schade, dass meine Großeltern nicht das Geld hatten, so etwas zu kaufen. Heute müsste das wohl einen Wert im zweistelligen Millionenbereich haben.


Der Aufstieg belohnt mich mit einem unschlagbaren 360-Grad-Ausblick. Ich könnte stundenlang in der Sonne auf trockenem Gras sitzen und die weite Gegend, die umliegenden Berge mit bereits verschneiten Spitzen und den See bewundern. Da es nach Sonnenuntergang aber kalt und eher ungemütlich wird, mache ich eine halbe Stunde Pause und trete dann den Abstieg ins Tal an, während ich die vielen Gleitschirmflieger beobachte, die auf den Hängen starten und ins Tal gleiten.
Zusammenfassung Ich kann gerne bestätigen, dass gegen den Nebel-Blues am besten Sonne kombiniert mit Bewegung hilft. Empfehlenswert sind gute Schuhe und eine Flasche Wasser. Die Wasserflasche habe ich leider am Samstag vergessen mitzunehmen. Umso schöner war das Trinken nach dem Abstieg!