Die Stille

Je älter ich werde, umso lieber habe ich die Stille. Es gibt sie selten, und wenn es sie mal gibt, haben viele verlernt, sie auszuhalten. Die Stille wird mit Leere gleichgesetzt und bekämpft, als wäre sie tödlich. In der Stille entsteht einiges, weil der Kopf endlich mal ein bisschen frei wird und die Fantasie wieder losrennen kann.

Als Jugendlicher habe ich den Rummel geliebt, und wie es so ist, je lauter, umso besser. Mit der Zeit merkte ich, wie schwierig die Stille zu finden ist. Auch im Wald, wo es nur natürliche Geräusche gibt, die auch sehr laut sein können, fliegt plötzlich ein Flugzeug über und dann noch eins. Eine wunderbare Stille gab es jahrelang beim Schwimmen. Unter Wasser, beim Kraulen, gab es Wassergeräusche, aber eine Stille, die den Gedanken freien Lauf ließ. Dann wurden Kopfhörer erfunden, die man unter Wasser benutzen kann, und mittlerweile gehöre ich zu der Minderheit der Schwimmer, die der Wasserstille beim Schwimmen der Musik aus Kopfhörern den Vorzug geben.

Bei uns zu Hause, trotz Dreifachverglasung und aller möglichen technischen Schmicki-Macki, gibt es die absolute Stille nicht. Einzig in dem Haus mitten im Wald, wo ich jetzt im Sommer den heißen Tagen entfliehe, gibt es sie. Um drei Uhr morgens, bei Windstille, wenn die Zikaden ihr Konzert beendet haben und die Vögel noch nicht aufgestanden sind, gibt es die Stille ohne jeglichen Laut. Als Kind kam sie mir unheimlich vor, jetzt empfinde ich sie als behutsame Sicherheit – die Umgebung sagt: Alles in Ordnung, schlaf gut weiter! Aber wehe, wenn einer der 200 Jahre alten Balken im Haus stöhnt! Eigentlich ist es leise, aber in dieser Stille wirkt es wie ein startendes Motorrad, so groß ist der Kontrast zur herrschenden lautlosen Ruhe.

Es erinnert mich an eine Geschichte, bei der ich die Stille fürchtete. Vor vielen Jahren war ich mit meiner damals fünfjährigen Tochter am Sonntagnachmittag Schlittenfahren. Es war Januar, ein sonnenklarer Tag, aber kalt. Am Nachmittag, als wir beide müde waren und der Tag begann, sich zu verdunkeln, nahm ich sie mit in die nahegelegene Kirche zu einem Orgelkonzert. Die Kirche war fast leer. Wir waren zusammen vielleicht zehn Leute. Die Musik war gewaltig, mächtig und körperdurchdringend. Wir saßen nebeneinander auf der Kirchenbank und meine Tochter legte ihren Kopf in meinen Schoß und schlief ein. Sie war noch klein und wir hatten an dem Tag viel unternommen. Ich streichelte ihre Haare und ließ sie schlafen. Wie schön, doch bei Bach-Orgelmusik einzuschlafen. Sie begann zu schnarchen. Das war kein Problem, weil die Orgel so laut war, dass niemand etwas merkte. Aber es gab doch die ganz kurzen Unterbrechungen zwischen zwei Teilen, in denen auch der allerletzte Ton der Orgel verstummte, und es kehrte eine absolute Stille ein. Das Schnarchen meiner kleinen Angel wäre sehr gut zu hören gewesen. Das wäre zum einen superpeinlich gewesen und vielleicht hätten sie uns weggewiesen. Das musste ich verhindern. In diesen stillen Pausen hielt ich den kleinen laut schnarchenden Mund meines Engels zu. Ich musste die Balance finden, um sie nicht zu ersticken, aber gleichzeitig so, dass kein Ton in diese Kirchenstille drang. Meine kleine Tochter zu wecken, war für mich keine Option. Sie schlief bis zum Ende des Konzerts und ich sorgte mich in diesen kurzen stillen Pausen, ihr die Luft nicht zu stark abzuwürgen. Entspannt Musik hören ist anders.

Ich schaffte es. Das Konzert war zu Ende, ich weckte sie und niemand merkte etwas. Es gibt auch schwierige Stille.

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