Uneingeladener Gast

Meine Freundin Cathy ist Amerikanerin. Sie hat ein Stellenangebot in der Schweiz erhalten, dem sie nicht widerstehen konnte. Jetzt ist sie seit einem Jahr da, verliebt in die Schweiz und lernt fleissig Deutsch. Als sehr systematische Juristin kommt sie mit der Sprache gut voran.

Sie hat sich eine sündhaft teure Maisonette-Wohnung mit fantastischer Aussicht gemietet. Ihre Hauspartys sind begehrt.

Ihre Wohnung hat zwei Eingänge, einer zugänglich via Lift der andere via Treppenhaus. Da sie im obersten Stock unter dem Flachdach wohnt, fährt sie ausschliesslich mit dem Lift nach Hause. Nach Hause gekommen, stellte sie fest, dass die Tür offen ist. Sie ärgerte sich über ihre Putzfrau, aber das war es auch.

Eine Woche später hat sie ihre Nachbarin angesprochen. “Cathy, du musst deine Eingangstür besser schliessen. Es war offen und ich habe sie geschlossen.“ Cathy war verdutzt und telefonierte umgehend mit der Putzfrau. Die hat beim Leben ihrer Kinder geschworen, dass sie sich jedes Mal 2x vergewissert, ob alle Fenster und Türen geschlossen sind, bevor sie die Wohnung verlässt.

Cathy grübelte nach, hatte aber keine Erklärung und vergass es wieder. Am Samstag entdeckte sie auf ihrer Terrasse zwei leere Bierdosen. Cathy trinkt kein Bier und die letzte Party hat vor 3 Wochen stattgefunden. Es konnten unmöglich Reste von der Party sein. Dazu hat sie dieses Bier sicher nicht selber gekauft.

Gestern kam sie nach Hause und ihre Eingangstüre war wieder offen. Cathy ist dann schnurrgerade zur Polizei gegangen. Sie war ziemlich sicher, dass jemand Fremder, Schlüssel zu ihrer Wohnung hat. Cathy erzählte, dass die Polizei nur widerwillig eine Anzeige aufnahm. Nichts ist verloren, nichts ist beschädigt, Gewalt wurde keine angewandt. Cathy hatte das Gefühl gehabt, dass man ihr nicht geglaubt und dass man sie für eine hysterische Amerikanerin gehalten hat. Sie sagte, dass sie wahrscheinlich auf mehr Sympathie und Verständnis gestossen wäre, wenn sie all ihren Schmuck als gestohlen gemeldet hätte.

Cathy wechselte all ihre Schlüssel wie auch ihre Passwörter aus. In der Wohnung fühlte sie sich aber nicht mehr wohl. Oder wie hätten Sie sich gefühlt, wenn ein Unbekannter ihre Wohnung während ihrer Abwesenheit benutzt hätte? Cathy hat es radikal gelöst. Ihre neue Wohnung ist weniger spektakulär, fast bieder. Cathy kann dafür wieder gut schlafen.

Mit unbequemer Sicherheit lässt es sich leben, Unsicherheit ist bitter. Ich verstehe Cathy gut.

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