Orientierungslauf

Meine Mutter hatte den 70. Geburtstag. Als mein Vater sie fragte, ob sie ein Wunsch habe, wohin sie zu Feier des Tages essen gehen will, sagte sie trotzig, dass sie nicht essen gehen möchte, sondern sich einen Orientierungslauf wünsche. Ich habe ihr einmal in den Sommerferien zu ihrem Namenstag ein Waldpostenlauf geschenkt. Damals war sie 36 Jahre alt, es war Sommer und warm. 

Jetzt ist Januar mit eisigen Minus 10 mitten in Prag und ich wohne in Zürich. Vater rief mich an und ich sagte spontan zu, ohne zu wissen, was das bedeuten wird. Okay dann organisiere ich ihr ein Orientierungslauf. Das war 5 Tage vor ihrem Geburtstag. 

Ich buchte den ersten Flug am Samstagmorgen nach Prag, liess meine Mami telefonisch wissen, dass sie ihren Orientierungslauf am Sonntag bekommt und dass ich wie abgemacht nicht komme, weil wir gemeinsam an Ostern feiern.

Es war eine hektische Woche, ein Orientierungslauf der Spass macht für eine fitte siebzigjährige Dame auf die Beine zu stellen, ist ein aufwendiges und anspruchsvolles Vorhaben. 

Der ganze Samstag und Sonntag habe ich unzählige Kilometer in Prag abgelaufen um die Posten mit Anweisungscouverts für meine Mutter anzulegen. Das erstaunliche war, dass alle mitgemacht haben. Die Frau im Blumenladen, die Verkäuferin in einer Boutique, im Restaurant, im National Theater, in der Galerie. Ich konnte alle Couverts erfolgreich platzieren!

Meine Mutter bekam am Abend zuvor die Anweisung das erste Couvert in einer Boutique um 10 Uhr abzuholen. Ich hatte ihr auch Kaffeepausen und Mittagessen eingebaut. Und mit der Zeitplanung hab ich mir wirklich den Kopf zerbrochen. Das Herzstück des Laufes war eine Opernaufführung um 14 Uhr im wunderschönem National Theater inklusiv einer Führung hinter den Kulissen. 

Mutter lief allein und ich kontrollierte die Posten telefonisch und verteilte noch die kleinen Geschenke. Sie bekam an jedem Posten ein kleines Geschenk. Im Theater sass ich im Balkon und beobachtete sie in der dritten Reihe tief unter mir im Parterre. Nach dem Theater war ihr nächster Posten eine Cafeteria, bei dem sie Kaffee und Kuchen bekommen sollte und dort wollte ich sitzen und auf sie warten. 

Ich sass in der Cafeteria und wartete. Das grösste Problem bis anhin war, dass meine Mutter die Posten viel zu schnell durchlief und bis um eine halb Stunde früher erschien als ich einplante. Jetzt wartete ich und sie kam nicht! Wir haben abgemacht, dass wenn was schief geht, sendet sie mir eine SMS. Und die SMS kam jetzt. 

„Ich sitze in der Cafeteria und niemand kommt wie versprochen. Soll ich nach Hause gehen?“ 

Ich schaute mich um, aber meine Mutter sah ich nicht. Hatte sie sich ins falsche Cafeteria gesetzt? Ich stand auf und lief zum Ausgang. Plötzlich sah ich sie in einer Ecke versteckt. Ich habe ihr kommen gar nicht bemerkt. 

Meine Mutter war schockiert und überglücklich zugleich mich zu sehen. Sie war voll von Eindrücken des Tages und erzählte mir wie toll es war und was ihr die Leute sagten, dass ihr alle gratulierten und als sie aufhörte zu sprechen, nahm sie mein Hand und begann zu weinen. Sie war überglücklich und ich auch.

Sie war gerührt, was für eine tolle Tochter sie hat und ich war gerührt was für eine tolle Mutter ich habe. Ist es nicht schön und ein riesen Glück einander zu haben? 

Einfach der letzte Posten das gemeinsame Nachtessen wollte sie nicht mehr. Sie hatte die gesamte Strecke (und die war beachtlich) zu Fuss zurückgelegt und hatte sich kaum Pausen gegönnt. Jetzt war sie k.o. vom Laufen im eisigen aber sonnigen Prager-Januar-Wetter und von emotionalen unerwarteten Erlebnissen. 

Sie sagte sie wird heute nicht einschlafen können. Aber ich konnte sehen, dass wenn sie sich jetzt hinlegen würde, wird sie sofort einschlafen. Und so war es wie Vater bestätigte. 

Es lebe noch lange meine tolle Mutter, auch wenn sie die Läufe nicht mehr bis zur Zielgerade durchlauft.

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