Geburtstag


Ich mag Weihnachten, Silvester und meinen Geburtstag nicht besonders. Schon als Kind graute mir vor der Vorstellung der geplanten Feier: Jetzt wird es lustig, gemütlich oder was auch immer. Freude auf Knopfdruck liegt mir nicht, und Vorfreude empfinde ich kaum. Ich bekomme viele gut gemeinte Gratulationen und Geschenke, mit denen ich oft nichts anfangen kann. Dazu kommt das erzwungene Gefühl, auf alle Glückwünsche freudig reagieren zu müssen.

Was ich hingegen mag, ist, spontan oder kurzfristig mit meinen ehemaligen Schulkollegen, Freunden und Freundinnen etwas auszumachen – zu zweit, zu dritt oder in einer grösseren Gruppe – und einen lustigen, unverbindlichen Abend oder ein Wochenende ohne Agenda und Hintergedanken zu verbringen.

Jetzt ist es wieder so weit. Ich habe Geburtstag. Alle Jahre wieder im Januar. Meine Freundinnen schreiben mir, und das freut mich wirklich, denn das sind authentische Glückwünsche mit ehrlichen Angeboten, gemeinsam wandern zu gehen oder ins Kino, Theater oder eine Ausstellung. Sie kennen mich und wissen, dass mich materielle Geschenke selten glücklich machen. Die Kinder melden sich, die Eltern und weitere Verwandte schreiben. Einige alte, langjährige Geschäftspartner lassen von sich hören. Und dann bekomme ich Anrufe und Mails, die durch Kalendereinträge von Versicherungen, der Garage oder anderen Dienstleistern ausgelöst werden. Die SBB schenkt mir einen Gutschein für ein Getränk, Ticketcorner eine 5-Franken-Ermässigung. Ich möchte nicht undankbar wirken, aber ehrlich: Ich brauche keine KI, die programmiert wurde, um meinen Geburtstag zu beachten. Das macht keinen Spass.

Ich war bei meiner Mutter zu Besuch, um ihr bei der Einstellung ihrer Hörgeräte zu helfen. Jetzt fliege ich an meinem Geburtstag zurück nach Hause. Ich setze mich auf meinen Sitz – und da ich ein super günstiges Ticket gekauft habe, überrascht es mich nicht, dass ich wieder wie schon auf dem Hinflug in der letzten Reihe des Flugzeugs eingecheckt wurde. Ein Aufpreis für 15 Reihen weiter vorne zu sitzen, ist es mir nicht wert. Lesen kann ich überall, nachdenken ebenfalls. Ich mache es mir bequem, öffne meinen Laptop und beginne zu arbeiten. Dann kommt die Stewardess und fragt mich, ob ich Frau Merz sei. Ja, das bin ich. Sie gratuliert mir und überreicht mir eine Tafel Schokolade. Und das hat mich tatsächlich berührt. Das Unerwartete traf mich emotional. Swiss, gut gemacht – ich habe mich über diese Gratulation sehr gefreut.

Übrigens habe ich dieses Jahr nach langer Zeit wieder einen materiellen Wunsch: Ich möchte mir gerne einen Billardtisch kaufen. Das ist allerdings ein anspruchsvoller Wunsch. Ein Billardtisch ist gross und schwer. In meiner Wohnung ist kein Platz dafür. Aber im Ferienhaus wäre es möglich, den Raum über dem alten Stall aufzustocken und dort den Tisch aufzustellen. Das ist jetzt mein Geburtstagswunsch und vermutlich ein Projekt für die nächsten drei Jahre. Ich brauche einen Architekten, der sich mit alter Bausubstanz auskennt. Die Wände bestehen aus Stein, das Haus wurde 1906 erbaut, die Ställe wahrscheinlich über 100 Jahre früher. Ich brauche einen Bauleiter und eine Baugenehmigung. Die Realisierung wird sicher anspruchsvoll, da durch die Aufstockung vermutlich ein komplett neues Dach nötig wird. Wie immer ist mein Budget begrenzt, und alles muss hineinpassen.

Warum Billard? Ich habe in den Ferien nach langer Zeit wieder fast jeden Tag gespielt. Ich bin überhaupt nicht gut. Mir hat schon immer das dreidimensionale Sehen gefehlt, und Geometrie war für mich ein Horrorfach. Als ich mit 14 einen Intelligenztest gemacht habe (als Hilfe für die Berufswahl), erzielte ich im Bereich der räumlichen Visualisierung null Punkte. Man liess mich diesen Teil des Tests wiederholen, weil der Verdacht bestand, dass etwas schiefgelaufen sei. Das Ergebnis blieb jedoch gleich: null Punkte. Es gibt Dinge, die ich einfach nicht kann. Für Billard ist die Fähigkeit zur räumlichen Visualisierung von grossem Vorteil. Seitlich einzuparken, konnte ich erst nach langem Suchen nach einer Strategie. Heute schaffe ich es ohne weiteres und schwitze nicht mehr wie in den ersten 20 Jahren mit Führerschein. Ich erinnere mich an Kollegen und Fahrlehrer, die mir versprochen haben, es mir beizubringen – keiner hat es geschafft. Ich musste selbst herausfinden, wie ich diese fehlende Fähigkeit kompensieren kann.

Mit Billard ist es ähnlich. Ich kann mir nicht vorstellen, was passiert, wenn ich eine Kugel durch eine andere stosse, aber mittlerweile kann ich einiges analytisch ableiten. Meine Schwäche zu überlisten, macht mir grossen Spass. Ich brauche den Billardtisch, um besser zu werden; dafür braucht es die Aufstockung, und diese benötigt die Baugenehmigung, die mir ein Architekt und Bauleiter besorgen sollten. Falls ihr tolle Architekten oder Bauleiter kennt, wäre das für mich ein wunderbares Geburtstagsgeschenk.

Ich habe schon wieder Geburtstag. Swiss, danke für die Schokolade.

Jamaika – Die Reise, die sich lohnt


Vor meine Abreise hatte ich Bedenken aufgrund der vielen beängstigenden Meldungen, die ich in meiner Vorbereitung gelesen hatte. Die lange Liste der notwendigen Impfungen und Warnungen vor hoher Kriminalität, etwa dass die Mordrate zu den höchsten in der westlichen Hemisphäre gehört, hatten mich sehr verunsichert. Auch Meldung wie “Jamaica is classified as medium-risk destination” beruhigte mich nicht wirklich. Der Rat “Always be accompanied by someone you know, even when going to the restroom” schien mir übertrieben paranoid.

Ich bin keine Person, die zwischen Mittelnacht und Morgengrau in Bars verkehrt oder sich die Slums aus nächster Nähe ansehen muss. Zu Beginn meines Aufenthalts war ich sehr risikoscheu und verhielt mich entsprechend vorsichtig. Doch wer nicht bereit ist, auszugehen, wird auch nie etwas entdecken. Mit einem gemieteten Auto konnte ich einen großen Teil der Insel erkunden. Der Norden ist anders als Westen und Süden und überall lohnt es sich reinzukucken. Jamaica ist definitiv eine Reise wert. Es gibt sehr gepflegte Gegenden mit unglaublichen Villen und üppigen Gärten, kleine farbenfrohe Holzhäuser mit viel Charme und auch ärmliche Baracken sowie einige Bauruinen. Aber wo gibt es diese Unterschiede nicht?

Mich haben vor allem die Bauruinen fasziniert. Einige scheinen alt und verlassen zu sein, andere sind unvollendete Bauten, die aus unerklärlichen Gründen nicht fertiggestellt wurden. Der Sonntag scheint der Waschtag zu sein, zumindest war es an einem sonnigen Tag ohne Wolken so. Die Wäscheleinen vor den Häusern waren voll behangen und die farbenfrohen Kleidungsstücke wehten fröhlich im Wind! Die Menschen sind gelassen und freundlich, immer für ein Schwätzchen zu haben und stolz auf ihr Land. Sie wollten wissen, woher ich komme, und alle, mit denen ich gesprochen habe, kannten meine Heimatland. Der Geographieunterricht in ihren Schulen muss wirklich gut sein!

Einige zu Hause, denen ich vor Abreise erzählte habe, dass ich nach Jamaica fahre, meinten,  ich würde nach Afrika reisen. Geographisch völlig falsch, aber tatsächlich stammen 90% der heutiger Einwohner aus Ghana ab, die im 17. und 18. Jahrhundert eingeschleppt wurden und auf Zuckerplantagen gratis  arbeiten mussten. Das Klima ist tropisch-feucht am Meer und gemäßigt im Hochland. Überall ist es grün und die üppige Vegetation wuchert mit beeindruckender Kraft. Die Pflanzen sind atemberaubend schön: Beim Frühstück konnte ich Delfine beobachten, die nicht weit vom Ufer spielten, sowie Kolibris. Besonders angetan haben es mir die braunen Pelikane.

Stellt euch vor, ihr lasst euch im warmen Meer treiben und plötzlich taucht nur wenige Meter entfernt ein riesiger Vogel kopfüber ins Wasser, in der Hoffnung, einen Fisch zu fangen. Was ihm nach meiner Beobachtung eher selten gelingt. Die Art und Weise, wie sie sich Nahrung beschaffen, hat mich stark fasziniert. Sie überfliegen eine Lagune relativ tief über dem Wasser, steigen dann auf und lassen sich plötzlich wie ein Stein kopfüber ins Wasser fallen. Mit mäßigem Erfolg. Die Höhe, aus der sie sich fallen lassen, ist relativ groß – schätzungsweise 10 bis 15 Meter. Sie müssen über ein Schutzmechanismus verfügen, dass sie sich keine Gehirnerschütterung bei so vielen Versuchen zuziehen.

Wenn ihr nach Jamaica reisen möchtet und wissen wollt, was sich zu besuchen lohnt, empfehle ich folgende eher volle, aber sehenswerte touristische Orte: Rick’s Café in Negril für diejenigen, die gerne aus großer Höhe ins kristallblaue Wasser springen möchten. Vorsicht, sie sind sehr amerikanisch unterwegs und verbieten alle nur ein bisschen gefährlicheren Sprünge wie Backflips. Dann die Dunn’s Watter Falls, wo man durch Wasserfälle vom Meer nach oben in unglaublich klares Süßwasser klettern kann. Auch ein Besuch ich einen botanischen Garten oder eine Vogelbeobachtungsstation, wo man Kolibris aus wenigen Zentimetern Entfernung beobachten kann, lohnt sich bestimmt. Es gibt einige.

Der Rest hängt von euren sportlichen oder anderen Vorlieben ab. Und selbstverständlich das Meer. Ich konnte mich nie sattsehen und -hören, besonders nachts, wenn alle nachtaktiven Tiere dazukommen. Zur Sicherheit: Wenn man die Sicherheitsstandards wie in anderen großen Städten einhält, ist das Reisen in Jamaica unbedenklich. Ich habe es geschafft, mich mit dem Mietauto zu verfahren, und abgesehen von riesigen Schlaglöchern bin ich nur auf hilfsbereite und nette Leute gestoßen. Das ist vielleich etwas was man wissen sollte. Die Signalisation ist eher dürftig. Die Ortschaften sind selten angeschrieben und die Einbahstrasse nicht gekennzeichnet. Paar mal mussten mich Einehimische aus so eine Einbahstrasse Labyrinth navigieren. Auch wenn sie mir versucht hatten, zu erklären wie man Einbahnstrassen in Städten erkennt , habe ich es nicht wirklich verstanden und leider war die Google Map auch nicht immer eine Eindeutige Hilfe.

Abendessen soll man dort, wo die Einheimischen essen, und nicht nur in Hotel. Für meinen Geschmack ist das Angebot auf der Insel fast überall zu fleischlastig, aber mindestens ein Fisch findet sich immer. Überraschenderweise ist Gemüse eher selten auf den Menüs, und Früchte kauft man sich am besten neben der Straße.

Nicht zuletzt die Musik und Bob Marly. Bob ist in unzähligen Bildern an allen möglichen Wänden Omnipräsent. Und einem einheimischen Band am Meeresufer am Abend bei» One Love» zuzuhören ist ein unvergessliche Erlebnis. Sich in Jamaica zu verlieben, fällt dann einem nicht schwer.

Jamaika – Weihnachten mit James Bond


Ich liebe Märchen. Es ist doch schön zu wissen, dass das Gute über das Böse siegt. Immer! Sonst ist es kein Märchen. James Bond, geschaffen von Ian Fleming, ist für mich nichts anderes als ein Märchen für Erwachsene. Das Gute besiegt das Böse. Immer! Sonst ist es kein richtiger James Bond.

Vor Kurzem hat mir ein Freund erzählt, wie Ian Fleming den Namen James Bond gefunden haben soll. Fleming suchte nach einem durchschnittlichen, eher langweiligen Namen. In seiner Bibliothek stand auch eine grosse Vogel-Enzyklopädie. Der Verfasser: James Bond. Ob die Geschichte stimmt, weiss ich nicht, aber ich finde sie grossartig. James Bond, der Vogel-Spezialist, der regelmässig die Welt rettet.

Ich verbringe dieses Weihnachten auf Jamaika. Nein, nicht wirklich wegen James Bond, sondern wegen des guten Wetters, des Meeres, des Windes und der Musik. Es ist das erste Mal, dass ich hier bin, und es ist eine Erfahrung, die sich lohnt. Der Anfang war allerdings holprig. Mein Flug hatte Verspätung, und ich machte mir Sorgen, dass der Autoverleih bereits geschlossen sein könnte. Glücklicherweise traf das nicht zu. Die Dame war noch da und übergab mir die Schlüssel.

Die Überraschung kam, als sie mir sagte, dass der Benzintank leer sei. Wie leer er war! Kaum hatte ich den Motor gestartet, zeigte die Anzeige an, dass ich tanken muss – Notreserve! Ich fragte, wo die nächste Tankstelle sei, und man sagte mir: geradeaus und dann links. Das klang nicht besonders beruhigend. Das Auto hatte keine Navigation, und draussen war es stockdunkel.

Ich fuhr los und fand nach etwa drei Kilometern tatsächlich eine Tankstelle, zu meiner grossen Erleichterung. Aber sie war menschenleer. Ich ging von Säule zu Säule und versuchte herauszufinden, wie man hier tankt. Es war dunkel, mitten in der Nacht, und ich begann leicht nervös zu werden. Nach und nach realisierte ich, dass ich weder mit Bargeld in irgendeiner Währung noch mit Kreditkarte an dieser Tankstelle tanken konnte.

Mit mulmigem Gefühl suchte ich auf der Karte nach der nächsten Tankstelle. Es gibt wahrlich angenehmere Vorstellungen, als mitten im Nirgendwo in einem Auto mit leerem Tank übernachten zu müssen. Plötzlich kamen drei Fahrzeuge mit quietschenden Reifen auf die Tankstelle gefahren. Nein, ich wurde nicht überfallen, und nein, ich musste die Nacht nicht im Auto verbringen. Ich fand eine andere, nahegelegene Tankstelle und konnte den Tank schliesslich füllen.

Jamaika hat viel zu bieten. Besonders fasziniert haben mich die Kolibris und die Pflanzenwelt. Die Insel ist unglaublich grün, es gibt Wasser im Überfluss, und ein Regenschauer hier ist ein Erlebnis. Die Qualität des Trinkwassers ist aussergewöhnlich hoch. Man kann Vogelstationen, botanische Gärten oder Abenteuerparks besuchen. Man kann Wasserfälle erklimmen oder auf einem Floss fahren.

Die Musik, der Tanz und die Gespräche mit den Einheimischen machen Jamaika zu etwas Besonderem. Die Menschen sind freundlich, hilfsbereit, und jeder hat Zeit für ein Schwätzchen. Ich kann gut nachvollziehen, warum Ian Fleming seine Bücher hier geschrieben hat.

Erbverzicht und Ergänzungsleistungen


Vadim und Nathalies Ehe war nach 20 Jahren zu Ende. Der ältere Sohn war 19 Jahre alt, der jüngere fast 17. Vadim zog aus dem gemeinsamen Haus aus und lebte bald darauf mit seiner neuen Freundin zusammen. Die Scheidung nahm ihren Lauf. Vadim und Nathalie einigten sich problemlos und fair auf die Vermögensteilung, wodurch sie sich teure Anwaltskosten sparten. Was bei der Vermögensteilung reibungslos funktionierte, misslang jedoch bei der Regelung rund um ihre Kinder.

Nathalie bestand darauf, dass die Söhne weiterhin den bisherigen Grundsätzen und Pflichten folgten, während Vadim ihnen fast alles erlaubte. Dies führte zu einer schwierigen Situation, in der die Kommunikation zwischen den Eltern vollständig abbrach – ein Umstand, den die Jungs zu ihrem Vorteil nutzten.

Relativ schnell fand Vadim wieder eine feste Partnerin, mit der er zusammenziehen wollte. Da Vadim keine Mietwohnung wollte, entschied er, mit seiner Freundin eine gemeinsame Immobilie zu kaufen. Da seine Partnerin ebenfalls Kinder aus einer früheren Beziehung hatte, war es Vadim ein Anliegen, sich gegenseitig abzusichern. Eine Hochzeit kam für ihn jedoch nicht infrage. In diesem Zusammenhang entstand die Idee, alle Kinder zu fragen, ob sie auf ihr Erbe verzichten könnten. So wollte er gewährleisten, dass er und seine Partnerin auch ohne Ehevertrag abgesichert wären.

Das einzige Problem war, dass der jüngere Sohn noch nicht volljährig war. Vadim musste warten, bis er 18 Jahre alt wurde. Vadim befürchtete, dass Nathalie, sobald sie von seinen Plänen erfahren würde, ihre Söhne davon abhalten könnte. Um dies zu verhindern, bemühte er sich, der grosszügigste Vater zu sein, den die beiden je hatten, und bat die Jungs, der Mutter nichts zu erzählen. Die Strategie ging auf. Fünf Tage nach dem 18. Geburtstag des jüngeren Sohnes unterzeichneten alle Kinder beim Notariat den Erbverzicht. Danach wurde ein grosses Fest gefeiert, und die Söhne dachten nicht weiter darüber nach. Ihr Alltag änderte sich zunächst nicht.

Mit der Zeit kühlte sich jedoch die Beziehung zwischen Vadim und seinen Söhnen merklich ab. Im Verlauf ihrer weiteren Ausbildung wurde den Jungs klar, dass sie die Konsequenzen ihres Handelns damals nicht vollständig verstanden hatten. Jahre später erzählten sie schliesslich ihrer Mutter davon. Nathalie war entsetzt.

Es ging dabei nicht nur um Vadims Vermögen und die Immobilie, sondern auch um das Vermögen der Ex-Schwiegereltern, das später vererbt werden könnte – ein Punkt, der bei der Unterzeichnung des Erbverzichts nicht zur Sprache kam.

Ein weiteres Problem: Ein Erbverzicht kann später auch Auswirkungen auf die Berechnung von Ergänzungsleistungen haben. Ein Vermögensverzicht unterliegt keiner Verjährung; stattdessen wird der Betrag lediglich jährlich um 10.000 CHF reduziert. Dieser Umstand sollte bei der Nachlassplanung sorgfältig berücksichtigt werden. Dass der Notar dies damals gegenüber den jungen Erwachsenen nicht erwähnte, ist kaum nachvollziehbar.

Gemäss Art. 11 Abs. 1 lit. g des EL-Gesetzes werden bei der Berechnung der Ergänzungsleistungen auch Einkünfte und Vermögenswerte angerechnet, auf die verzichtet wurde. Dies dient dazu, Missbrauch zu verhindern. Anspruchsberechtigte sollen nicht zulasten der Versicherung auf Einkommen verzichten und ihr Vermögen verschenken können. Ein Vermögensverzicht muss im Anmeldeformular deklariert werden, wobei die Angaben mit den Steuererklärungen der vergangenen Jahre abgeglichen werden.

Mit 18 Jahren und einem jährlichen Abzug von 10.000 CHF könnte dieser Vermögensverzicht im Alter irrelevant sein – jedoch nur, wenn keine frühere Situation eintritt, die zur Beantragung von Ergänzungsleistungen zwingt.

Die Geschichte von Irene Bobelijn – Ein Wochenende in Antwerpen


Vor einigen Jahren hatte ich das Vergnügen, das Einwanderungsmuseum in New York zu besuchen. Es war eine faszinierende und zugleich gespenstische Erfahrung. Stellt euch vor, ihr versucht, dem Hunger und der Armut zu entfliehen und wandert aus Europa in die USA aus. Nach Wochen auf einem Schiff über unruhige See erreicht ihr New York. Die Behörden führen verschiedene Tests durch und teilen euch dann mit, dass ein Mitglied eurer Familie nicht ins Land gelassen wird und nach Europa zurückkehren muss. Was würdet ihr tun? Geht ihr alle wieder zurück? Schickt ihr die Person allein zurück, oder teilt ihr euch auf? Diese Fragen habe ich mir damals gestellt, und noch heute erinnere ich mich an das Unwohlsein, das ich in dieser Ausstellung in New York empfand, als ich versuchte, mich in diese Situation zu versetzen.

Nun bin ich für ein Wochenende in Antwerpen und besuche das Red Star Line Museum. Dieses Museum beschreibt den Ausgangspunkt der Auswanderungsreise von Europa nach Amerika. Aus Antwerpen sind unzählige Europäer nach Amerika aufgebrochen, getrieben von denselben Gründen wie heute: fehlende wirtschaftliche Perspektiven, Armut und Verfolgung. Das Museum im Hafen ist definitiv einen Besuch wert, und hier habe ich eine der atemberaubendsten Geschichten von unserer Museumsführerin gehört.

Die Geschichte handelt von der Familie Bobelijn. Der Vater wanderte zuerst in die USA aus, während die Mutter mit drei Jungs und der kleinen Irene in Europa zurückblieb. Nachdem sich der Vater in den USA etabliert hatte, holte er seine Familie nach. Die Mutter und vier Kinder bestiegen ein Schiff der Red Star Line Richtung USA. Die Überfahrt in der dritten Klasse war alles andere als eine Ferienreise: beengte Verhältnisse, keine Privatsphäre, eintöniges Essen und vielleicht auch noch Seekrankheit obendrauf. Bei der Ankunft in New York wurde bei der achtjährigen Irene eine ansteckende Augenkrankheit diagnostiziert. Sie durfte nicht in die USA einreisen. Der Rest der Familie hingegen durfte einreisen.

Stellt euch vor, ihr müsstet diese Entscheidung treffen: Am Ufer wartet euer Mann, den ihr seit mehreren Jahren nicht gesehen habt, und ihr müsst entscheiden, ob ihr alle wieder nach Europa zurückkehrt und es später erneut versucht, oder ob ihr die kleine Irene allein zurückschickt. Eine Option, dass die Jungs zum Vater gehen und die Mutter mit Irene zurückkehrt, stand nicht zur Auswahl, da die Behörde minderjährige Jungs nicht allein ins Land ließ. Wie hättet ihr entschieden?

Die Mutter schickte die kleine Irene allein nach Antwerpen zurück. Nach einem Jahr versuchte es Irene erneut, wurde aber wieder abgewiesen und musste zurückreisen. Sie lebte weitere vier Jahre in einer Pflegefamilie, und erst beim dritten Versuch klappte es. Eine wahre Horrorvorstellung für jedes Kind und jede Familie.

Solche Geschichten wiederholen sich wahrscheinlich täglich in abgewandelter Form, und wir können sie uns oft nicht vorstellen. Vielleicht werden unsere Nachfahren in 80 Jahren von den Geschichten von heute erfahren.

Ebenfalls spannend war zu erfahren, dass die Red Star Line eine europäische Vertriebsorganisation für den Billettverkauf hatte. In der Schweiz war das Büro in Luzern. Falls ihr Vorfahren habt, die nach Amerika ausgewandert sind, lässt sich in digitalisierten Archiven nach ihnen suchen.


Antwerpen war für mich eine wahre Entdeckung. Es ist eine Stadt, die eine Reise wert ist. Beispielsweise die vielen Rubens-Bilder in der unglaublich weitläufigen Kathedrale, die lebendige Altstadt, die Gelassenheit trotz der Menschenmassen, die Tatsache, dass im November bis spät in der Nacht draußen gegessen, Karten gespielt, diskutiert und gelacht wird, der Hafen, die Museen, die beeindruckende Bahnhofshalle und die unzähligen spannenden Gebäude in der Stadt, die vielen Restaurants und Museen. Falls ihr ein paar Tage Zeit habt, ist Antwerpen auch bei Nebel sehr empfehlenswert.

Nebel im Mittelland


Ich wohne eine halbe Stunde von Zürich entfernt. Es ist ein toller Ort mit sehr liebenswürdigen Menschen und einem fantastischen See. Ich habe eine unglaubliche Panorama-Aussicht über die Berge und den See. Ein Blick aus dem Fenster ersetzt das Fernsehen. Außer zwischen November und Februar. Dann plagt uns der Nebel. Aber was für ein Nebel! An manchen Tagen ist der Nebel so weiß und dicht, dass er mich an Kinderbrei erinnert. Kinderbrei zu essen ist eine meiner schönsten kindlichen kulinarischen Erinnerungen. Doch von Kinderbrei umgeben zu sein, ist einfach nur ekelhaft. Der Nebel ist sehr hartnäckig. Ohne Probleme hält er sich den ganzen Tag bis in die Nacht. Man sieht nichts. Gar nichts. Nur Grau, Weiß oder Schwarz. Den Unterschied zwischen Tag und Nacht erkennt man an der Helligkeit. Nach ein paar Stunden in diesem dicken Nebel wird mir physisch übel. Nicht nur ein bisschen, sondern richtig übel. Zwei Dinge helfen dann: Bewegung und Sonne.

Jetzt hält sich der Nebel schon seit ein paar Wochen. Er ist nicht so undurchsichtig, wie er es im Februar sein kann, aber er ist Tag für Tag ohne Pause da. Ich halte es nicht mehr aus. In der Schweiz kann man dem Nebel mit einer 1,5-stündigen Fahrt entkommen. Also bin ich nach Interlaken gefahren. Ich musste in die Höhe, weil die Nebelgrenze bei 1100 m liegt und darüber herrliche, wolkenfreie Sonnentage zu finden sind. Am Morgen war es noch dunkel, und das Erwachen des Tages erkannte man nur am Wechsel von Schwarz-Milchig zu Grau-Milchig. Ich fuhr los, und nach etwa einer Stunde Fahrt kam der erste Sonnenstrahl, wie ein Guten-Morgen-Kuss. Man sieht den dichten Nebel, der unten wie ein Kissen zurückbleibt, und erfreut sich an den immer noch grünen Hängen der Berge (der Schnee kommt bald) und an der Sonne.

Eine Wanderung zum Gemmenalphorn auf 2061 m Höhe liegt vor mir. Offenbar hatten viele andere die gleiche Idee – von einem einsamen Aufstieg kann keine Rede sein. Es erinnert eher an eine Völkerwanderung. Es fühlt sich aber gut an, weil alle grüßen, wie wenn man die Nachbarin trifft. Alle, die heute unterwegs sind, scheinen glücklich zu sein und lachen sich gegenseitig an. Was für ein genialer Tag! Meine Atmung meckert ein bisschen, insbesondere auf dem letzten Teil der Strecke, weil es wirklich steil ist. Ich habe jedoch keine Lust, langsamer zu werden. Vielleicht gibt es morgen Muskelkater; wir werden sehen. Mit jedem Schritt und jedem Tropfen Schweiß geht es mir besser. Es ist angenehm warm, die meisten laufen im T-Shirt, ein Pullover reicht, und die Jacke kann man getrost im Rucksack lassen.

Am Anfang der Wanderung stoße ich auf ein altes Haus. Alle Fenster und Türen sind offen, und aus dem Inneren klingt es nach Abbrucharbeiten. Vor dem Haus steht eine Mulde mit altem Holz und sonstigen Resten. Ich bin neugierig und schaue hinein. Gerade wird die dünne Holzwand zwischen Küche und Wohnzimmer abgerissen. Für die Isolation wurden damals Zeitungen verwendet. Ich hebe eine Zeitung vom Boden auf und sehe, dass sie aus dem August 1945 stammt. Die Zeitung ist perfekt erhalten, und ich blättere sie durch. Sie ist viel dünner als heutige Zeitungen, und der wesentliche Teil besteht aus Anzeigen. Ich lese eine Immobilienanzeige, in der eine Villa mit 9 Zimmern, 2000 m² Garten und wunderbarer Aussicht in Zürich für 220’000 Franken angeboten wird. Schade, dass meine Großeltern nicht das Geld hatten, so etwas zu kaufen. Heute müsste das wohl einen Wert im zweistelligen Millionenbereich haben.

Der Aufstieg belohnt mich mit einem unschlagbaren 360-Grad-Ausblick. Ich könnte stundenlang in der Sonne auf trockenem Gras sitzen und die weite Gegend, die umliegenden Berge mit bereits verschneiten Spitzen und den See bewundern. Da es nach Sonnenuntergang aber kalt und eher ungemütlich wird, mache ich eine halbe Stunde Pause und trete dann den Abstieg ins Tal an, während ich die vielen Gleitschirmflieger beobachte, die auf den Hängen starten und ins Tal gleiten.

Zusammenfassung Ich kann gerne bestätigen, dass gegen den Nebel-Blues am besten Sonne kombiniert mit Bewegung hilft. Empfehlenswert sind gute Schuhe und eine Flasche Wasser. Die Wasserflasche habe ich leider am Samstag vergessen mitzunehmen. Umso schöner war das Trinken nach dem Abstieg!

Sicherheitsgefühl in der Schweiz


Als Studentin habe ich in Norwegen gearbeitet. Ein wunderschönes Land. Eines Tages war ich mit meinen norwegischen Kollegen unterwegs, als einer plötzlich sagte: „Sieh mal, unser König,“ und mit dem Kopf in Richtung eines älteren Herrn nickte, der ganz allein auf der anderen Straßenseite ging. Zum einen sah dieser Mann überhaupt nicht aus wie ein König – vielleicht hatte ich damals eine ziemlich naive Vorstellung von Königen. Und zum anderen war er völlig allein unterwegs. Ob so etwas heute in Oslo noch möglich wäre, weiß ich nicht. In der Schweiz kann es durchaus vorkommen, dass man einem Bundesrat oder, noch häufiger, einem ehemaligen Bundesrat einfach so auf der Straße begegnet.

Zum Beispiel wohnt ein ehemaliger Bundesrat bei uns im Haus. Ein sehr netter Herr. Wir treffen uns oft am Briefkasten, im Aufzug oder im Treppenhaus. Es ist ein gutes Gefühl, sich sicher zu fühlen. In der Schweiz fühle ich mich sicher – warum auch nicht? Viele Kinder gehen hier schon früh ganz allein in den Kindergarten. Mir fällt auch keine einzige Gegend in der Schweiz ein, in der ich jemals Angst gehabt hätte. Es ist vielleicht ratsam, den Bahnhof Oerlikon am Wochenende zwischen 1 und 4 Uhr morgens zu meiden, um Konflikten mit Betrunkenen oder anderweitig beeinträchtigten Personen aus dem Weg zu gehen. Aber die Wahrheit ist, dass ich, selbst wenn ich um diese Zeit am Bahnhof Oerlikon sein müsste, großen Respekt, aber keine Angst hätte. Dieses Sicherheitsgefühl, das so selbstverständlich erscheint, ist ein Geschenk von großem Wert.

Als junge Studentin lebte ich noch in einem Land, in einem heruntergekommenen Viertel, wo neben vielen tollen Menschen auch einige merkwürdige Gestalten unterwegs waren. Wenn ich im Dunkeln nach Hause musste, fühlte ich mich oft unwohl. Also beschloss ich, mich zu bewaffnen. Eine Waffe bringt jedoch nichts, wenn man nicht bereit ist, sie im Notfall auch einzusetzen. Allein der Wille reicht nicht – man muss in der Lage sein, sich tatsächlich zu verteidigen. Die einzige Waffe, die ich wirklich beherrsche, ist der Degen. Also begann ich, einen silbernen Degen wie ein Musketier mit mir zu tragen. Mein Degen war nicht scharf, und die Spitze war abgerundet. Jemanden damit zu verletzen wäre wohl nur möglich gewesen, wenn die Klinge gebrochen wäre. Dennoch gab mir mein Degen ein Gefühl von Sicherheit, und ich bewegte mich ohne Angst auch nachts in diesem Viertel. Nur einmal kam es beinahe zu einem Unfall.

Es war etwa 20 Uhr an einem Winterabend, stockdunkel, und das Licht im Hausflur funktionierte wieder einmal nicht richtig. Ich konnte kaum etwas erkennen, als plötzlich ein Schatten auftauchte. Jemand hatte sich im Dunkeln an meiner Wohnungstür versteckt. Ein Schreck durchfuhr mich, und mein Adrenalinspiegel schoss in die Höhe. Alle möglichen Optionen gingen mir in einem Bruchteil einer Sekunde durch den Kopf: Ich hätte laut schreien können, doch in diesem Haus hätte das wohl kaum jemanden interessiert, denn ständig stritt hier jemand oder schrie im Rausch herum. Ich hätte weglaufen können – doch wohin und mit welchem Ergebnis? Also entschied ich mich für meinen Degen und bereitete mich sofort darauf vor, mich zu verteidigen.

Da sagte der Schatten plötzlich „Baff“ – und ich erkannte die Stimme meines idiotischen Kollegen David. Er wollte mich erschrecken, und es fehlte nicht viel, und ich hätte ihn womöglich ernsthaft verletzt. Ein dämlicher Witz! Solche unpassenden Scherze machte er ständig. Dabei hatte er Kummer und wollte mit mir sprechen. Warum jemand, der Kummer hat, solche Witze macht, verstehe ich bis heute nicht.

Ich weiß, was es bedeutet, allein unterwegs Angst zu haben, und ich schätze es, heute keine Angst haben zu müssen, wenn ich allein unterwegs bin. Danke, Schweiz.

Meine kürzliche Erfahrung mit Co-Pilot


Ich erlebte vor kurzem ziemlich frustrierende Erfahrung mit Co-Pilot. Ich setzte mich, wie gewohnt, hin, um meinen wöchentlichen Blog zu schreiben. Diese Aufgabe dauert in der Regel mindestens eine halbe Stunde, also beschloss ich, Co-Pilot zu nutzen, in der Hoffnung, dass es mir hilft, meinen Text weiter zu verfeinern.

Allerdings hatte ich, wie gewohnt, keine Sicherungskopie des Textes angefertigt. Nachdem ich meine Arbeit beendet hatte, drückte ich den „Generieren“-Button und erwartete, dass Co-Pilot sein Zauberwerk vollbringt. Zu meinem Bedauern kam Co-Pilot mit einer Nachricht zurück, in der stand, dass es keinen besseren Text produzieren konnte. Mein ursprüngliche Text ist jedoch verschwunden. Verschluckt irgendwo in Daten Ewigkeit. Ich war nicht nur enttäuscht, sondern fühlte mich auch vollkommen verraten, da mein ursprünglicher Text nicht gespeichert war. Da ich meine Arbeit nicht gespeichert hatte, war sie nun für immer verloren – eine halbe Stunde Arbeit, die umsonst war.

Ich war so verärgert, dass ich keine Lust hatte, von vorne zu beginnen, obwohl es eine ziemlich gute Geschichte war. Diese Erfahrung erinnerte mich daran, dass selbst die beste Technologie nutzlos sein kann, wenn sie nicht richtig eingesetzt wird, oder dass Technologie nicht immer die gewünschten Ergebnisse liefert.

Also erreichte meine Frustration mit künstlicher Intelligenz an diesem Sonntag einen neuen Höhepunkt, und dieser Text wurde ohne ihre Hilfe verfasst.

Anja


Meine Freundin Anja ist gebürtige Russin, lebt aber schon seit einer Ewigkeit in der Schweiz. Sie hat sich kulturell gut angepasst und eine erfolgreiche Karriere gemacht. Anja ist unglaublich hilfsbereit, lustig und hat ein großes Herz. Zeit mit ihr zu verbringen, ist immer ein Genuss. In bestimmten Bereichen ist sie jedoch sehr eigen, und auch die vielen Jahre in der Schweiz haben bei ihr kaum Spuren hinterlassen – zumindest was die Pünktlichkeit angeht. Ich bin es gewohnt, dass sie oft zu spät kommt. Nicht immer, aber fast immer. Deshalb treffe ich mich nur an Orten mit ihr, wo mir das Warten nichts ausmacht. Am besten ist es ohnehin, wenn sie zu mir nach Hause kommt. Dann ist es mir herzlich egal, ob Anja um 19 Uhr oder erst um halb neun auftaucht.

Neulich haben wir uns wieder verabredet, und aus Erfahrung schlug ich vor, dass sie zum Abendessen zu mir kommt. Gesagt, getan. Ich sagte ihr absichtlich 18 Uhr, weil ich wusste, dass sie ohnehin vor 20 Uhr nicht erscheinen würde. Auch beim Kochen habe ich mir nicht viel Stress gemacht, alles zu einer bestimmten Uhrzeit fertig zu haben. Um 20 Uhr habe ich dann relativ allein gegessen. Anja anzurufen, bringt sowieso nichts, weil sie nie ans Telefon geht. Früher habe ich mir bei ihrer Verspätung Sorgen gemacht und versucht, herauszufinden, was los ist. Aber das mache ich schon lange nicht mehr, weil ich weiß, dass es nichts bringt. Irgendwann taucht sie mit einem breiten Lächeln auf, als wäre nichts gewesen.

An diesem Abend kam Anja allerdings gar nicht mehr, und da ich noch ein paar Dinge zu erledigen hatte, habe ich den Abend einfach der Arbeit gewidmet.

Am nächsten Tag war Jacob bei mir zu Besuch, als es um 19 Uhr an der Tür klingelte. Anja stand da und begrüßte mich wie immer überschwänglich.
„Anja“, fragte ich sie verwundert, „wir hatten doch gestern abgemacht?“
Ganz gelassen antwortete Anja: „Meine Liebe, ich konnte nicht früher,“ küsste mich auf die Wange und begann, sich die Schuhe auszuziehen.

Wir hatten einen tollen Diskussionsabend zu dritt, nur das Essen war für drei etwas knapp bemessen. Aber das ist typisch Anja.

Lisa und Isa


Die kleine Anna wollte schon immer ein Haustier – egal welches, hauptsache etwas Lebendiges. Da sich die Diskussion mit ihren Eltern über einen Hund oder eine Katze als schwierig gestaltete, brachte sie nach Hause, was sich draußen so bewegte. Es gab Regenwürmer, Kaulquappen, Schnecken, Zikaden, Schmetterlinge und Ähnliches. Anna pflegte die Tiere und ließ sie meistens nach einer bestimmten Zeit wieder frei.

Eines Tages bot Vivien ihr zwei Mäuse an. Natürlich musste man Anna nicht lange überzeugen. Ihre Antwort war sofort “Ja!” – die eigentliche Frage war eher, wie sie ihre Eltern überzeugen könnte. Nicht überraschend erwies sich die Diskussion am Abend als schwierig. Trotz Annas taktischem Geschick wollten die Eltern nichts von Mäusen wissen. Anna war ziemlich deprimiert. Sie verweigerte ihr Lieblingsessen und lehnte auch den angebotenen Film ab. Sie zog sich in ihr Zimmer zurück und blätterte in ihrer großen Tier-Enzyklopädie, die sie vor zwei Jahren von ihrer Großmutter zu Weihnachten bekommen hatte. Die Bilder trösteten sie jedoch nicht. Anna hatte eine unermessliche Sehnsucht nach etwas Lebendigem, um das sie sich kümmern konnte.

Währenddessen diskutierten die Eltern, ob es vielleicht doch möglich sei, zwei kleinen Mäusen ein Heim zu geben. Es könnte für Anna von Vorteil sein, dachten sie. Die Mutter besuchte Anna in ihrem Zimmer und fragte sie, wie lange solche Mäuse leben würden. Anna wusste es nicht, also begannen beide, nach Informationen zu suchen. Sie fanden heraus, dass Mäuse eine Lebensdauer von etwa zwei Jahren haben. Für die Mutter schien das ein überschaubares Risiko zu sein – einer Schildkröte hätte sie nie zugestimmt.

Und so zogen bei den Müllers zwei kleine Mäuse ein: Lisa und Isa. Der Vater besorgte zusammen mit Anna aus zweiter Hand ein großes Terrarium, und Anna richtete ihren beiden Mäusen ein bequemes und liebevolles Heim ein. Nach der Schule schloss Anna immer die Tür zu ihrem Kinderzimmer ab und ließ die Mäuse darin frei herumlaufen. Die Eltern schauten ab und zu nach, ob alles in Ordnung war, aber es war gar nicht nötig. Anna kümmerte sich sehr gewissenhaft und vorbildlich um Lisa und Isa. Wochen, Monate und schließlich Jahre vergingen. Mittlerweile war Anna ein Teenager, und die beiden Mäuse hatten fast vier Jahre bei ihnen gelebt. Das Fell der Mäuse war an den Seiten weiß geworden, aber das fortgeschrittene Alter schien ihnen keine Probleme zu bereiten.

Eines Tages, als Anna von der Schule nach Hause kam, bewegte sich Lisa nicht mehr. Sie war tot. Isa saß gedrängt neben der toten Lisa und rührte sich nicht. Anna traute sich nicht, die tote Lisa wegzunehmen. Sie war zutiefst erschüttert über den Tod der kleinen Maus, aber noch mehr Sorgen machte sie sich um Isa. Die Maus, die ihr ganzes Leben lang nie allein war und alles geteilt hatte, war plötzlich allein. Anna wusste nicht, wie man eine Maus tröstet oder ihr helfen konnte.

Anna holte Rat bei Vivien, von der sie Lisa und Isa bekommen hatte und die für Anna die größte Mäuse-Expertin war. Vivien war besorgt und sagte, dass Isa nicht allein bleiben könne – sonst würde sie auch sterben. Deshalb beschlossen Anna und Vivien, dass Anna ihre Isa zu den Mäusen von Vivien bringt. Das war jedoch nicht so einfach, denn obwohl Isa ursprünglich aus Viviens Terrarium stammte, akzeptierten die Mäuse, die dort heute lebten, Isa mit grosse Wahrscheinlichkeit nicht. Vivien bereitete daher ein Kamillebad vor und badete alle ihre Mäuse darin. Die Mäuse waren zwar wenig begeistert, aber Viviens Finger entkam keine. Schließlich badete auch Anna ihre Isa im Kamillebad. Der ganze Raum roch nach Kamille. Schweren Herzens ließ Anna ihre Isa zu Viviens Mäusen, die sofort anfingen, Isa zu beschnuppern. Die Akzeptanz war da, und so hatte Isa ein neues Zuhause in einer Gemeinschaft gefunden.

Vivien erklärte Anna, dass Isa, wenn sie nicht gebadet worden wäre und anders gerochen hätte, möglicherweise von den anderen Mäusen gebissen worden wäre.

Damit war das Kapitel der Haustiere für Anna abgeschlossen. Lisa wurde unter Tränen im Garten begraben, das Terrarium wurde wieder verkauft – sogar zum gleichen Preis wie damals gekauft – und Anna musste ihrer Mutter erklären, dass die Lebensdauer von zwei Jahren nur in freier Natur gilt. Unter stressfreien Bedingungen mit genügend Futter kann sich die Lebensdauer verdoppeln.

Anna hat gelernt, wie wichtig es ist, den gleichen „Stallgeruch“ zu haben, um in eine Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Was bei den Mäusen gilt, ist bei den Menschen nicht anders – nur sind die Lösungen, die bei Mäusen funktionieren, bei Menschen kaum umsetzbar.