Wie machen wir eine bessere Welt


Ich habe das Gefühl, dass die Welt mindestens seit Corona ihre Nettigkeit verloren hat. Ich werde zwei Sekunden nachdem das grüne Licht erscheint angehupt, wenn ich nicht sofort losfahre.
Wenn ich einen Abstand zum Fahrzeug vor mir halte, der mir erlaubt, in jeder Situation rechtzeitig zu bremsen, passiert es mit eiserner Regelmässigkeit, dass sich in das Loch (wahrscheinlich als unangemessen gross wahrgenommen) ein anderes Fahrzeug hinein schiebt. Ein “Danke” oder “Bitte” und erst recht eine Entschuldigung sind im öffentlichen Raum so dünn gesät wie die rare Erde auf diesem Globus. Etwas Nettes zu hören, kommt so selten vor, dass man es sich für die Ewigkeit merkt. Als wäre die globale Situation nicht schon schwierig genug, machen wir uns gegenseitig das Leben schwer. Man ruft schnell aus, die Toleranzgrenze ist unter den Gefrierpunkt gesunken, und anstatt miteinander zu reden, mit ehrlichem Willen, die Probleme zu lösen, wird die Polizei eingeschaltet. Ein Beispiel: Wenn der Nachbar noch fünf Minuten nach 22 Uhr Lärm macht. Es wurden Juristen eingeschaltet und viel Geld ausgegeben (was nicht weiter schlimm ist, da die Rechtsschutzversicherung zahlt), wo man eigentlich diskutieren und nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner suchen sollte.

Mich stört das zunehmend. Etwas zu ändern, erfordert den Einsatz vieler (wenn schon nicht aller) in einer dauerhaften Weise. Ich habe bei mir selbst angefangen. Meine E-Mails (fast alle) lässt jetzt die künstliche Intelligenz anpassen, macht sie besser und mich zu einem besseren Menschen. Der Ton wird weicher, die Sprache ausschweifender und netter. Die Botschaften werden in Watte gepackt. Das alles dauert nur ein paar Sekunden, und alle, die mich lange genug kennen, erkennen es sofort. Das ist sogar gewollt. Es liegt mir fern, mich mit falscher Feder zu schmücken. Der Effekt ist jedoch zweischneidig. Zum einen verlieren meine E-Mails an Authentizität. Das bin nicht mehr ich. Aber zum anderen – und das ist die Wahrheit – waren meine E-Mails nicht immer leicht zu verdauen. Ich bin eine direkte Person und mir ist bewusst, dass das nicht jedermanns Sache ist. Ich versuche, mich selbst zu bremsen, was mir wahrscheinlich nicht immer gelingt. Ab jetzt hoffe ich, dass meine E-Mails niemanden mehr verletzen können. Das ist schon etwas.

Ich habe bewusst angefangen, bei jedem Menschen das Positive, das Herausstechende, das, was auffällt, zu suchen. Ab und zu ist es harte Arbeit, es auf Anhieb zu finden, aber jeder hat etwas. Und das Hervorragende, Ausstechende benenne ich laut. Schlussendlich entspricht es der Wahrheit. So könnten alle zu ihrer täglichen Portion Nettigkeit kommen, ohne sich zu verstellen. Es ist, wie so oft, nur eine Willensfrage.

Am Sonntagmorgen, kurz nach 8 Uhr, war ich in der Bäckerei, um Brot zu kaufen. Neben mir, mit einem Tablett in der Hand, stand die kleine Verkäuferin, die dort schon seit Jahren arbeitet und immer ausgesprochen nett ist. Sie erinnert sich sogar an meinen Namen und grüsst mich mit Namen. Ich habe sie sehr gern. Auf ihrem Tablett stand eine Tasse – wahrscheinlich Kaffee –, ein Glas Wasser und ein Papiersack, bei dem es schwer war, zu sagen, was genau darin war. Der Sack war nicht gross, aber auch nicht klein. Ich dachte, jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, ihr ihre jahrelange Nettigkeit zurückzugeben. Ich sagte zu der Kassiererin hinter dem Pult, dass ich das Brot und ihr Frühstück ebenfalls bezahlen werde. Ich drehte mich zu ihr und erklärte ihr, wie nett ich sie finde und dass ich gerne ihr Frühstück heute bezahlen möchte. Sie war verlegen, aber sagte, dass es nett sei, sie aber selber zahlt. Sie sagte es jedoch nicht in einem kategorischen Ton, der keinen Widerspruch duldete. Ich insistierte und sie zögerte weiter. Nach mehrmaligem Hin und Her willigte sie schliesslich ein. Wie gross war aber meine Überraschung, als ich den Preis hörte, den ich zahlen musste: 1,20 Franken. Ich verstand die Welt nicht mehr. Vielleicht haben sie mir Mitarbeiterpreise berechnet und für den Kaffee mussten die Mitarbeiter nichts zahlen. Ich fragte nach, ob sie sich im Preis geirrt haben und ob alles in Ordnung sei, aber es wurde mir bestätigt, dass alles stimmt. Ich war eher von 10 Franken und mehr ausgegangen.

Ich hoffe, dass ich es geschafft habe, auch mit nur 1,20 Franken Freude zu machen und ein bisschen Nettigkeit zurückzugeben

Langeweile


Ab und zu, wenn mein Leben zu hektisch ist, wünsche ich mir ein paar Stunden Langeweile. Wie so oft ist es ein sehr platonischer Wunsch, den ich eigentlich gar nicht meine, weil Langeweile finde ich schrecklich.
Ich erinnere mich, dass meine letzte Langeweile irgendwann im Sommer lag, als es drei Wochen ununterbrochen geregnet hat und wir nicht draussen spielen konnten. Ich war damals ein Kind und digitale Unterhaltung gab es noch nicht.
Der Regen hat mir damals nichts ausgemacht, weil wir uns mit den Nachbarjungen auf unserem Dachboden einen provisorischen Tischtennistisch mit Hilfe meines Vaters gebaut hatten. Es waren zwei Holzplatten, die mein Vater nicht mehr brauchte, die auf einem Gartentisch und einer alten Nähmaschine befestigt waren. Diese Holzplatten waren kürzer und schmaler als ein normaler Tischtennistisch, aber das hat uns nicht gestört. Wir fühlten uns wie Profis im Trainingslager. Wir spielten von morgens bis abends, unterbrochen nur durch Pausen zum Mittagessen und Abendessen. Ein Tutorial oder eine Anleitung, wie man das Spiel spielt, hatten wir nicht, und was wir uns beigebracht hatten, war durch Versuch und Irrtum. Die Regeln, wie man Punkte zählt, hat uns mein Vater erklärt.

In diesem verregneten Sommer habe ich passabel Tischtennis gelernt. Doch ausgerechnet an diesem einen Tag mussten die Nachbarsjungen mit ihren Eltern zu ihrer Tante fahren, und ich blieb allein zurück. Es war mir langweilig, und an das Gefühl der Langeweile erinnere ich mich noch heute, nach Jahrzehnten. Das war das letzte Mal. Seitdem habe ich die entstandenen Freiräume vielfältig genutzt, und mein Problem sind eher die unendlichen Möglichkeiten, die man noch hätte – nur leider passen sie nicht in einen Tag, der nur 24 Stunden hat. Zum Beispiel wundere ich mich, dass mein Nachttisch immer noch steht, obwohl er schwer beladen ist mit all den ungelesenen Büchern, die ich unbedingt lesen möchte. Meistens, wenn eines der Bücher wegkommt, kommen zwei neue dazu. Alle diese kulturellen Angebote machen mich fast wahnsinnig, weil ich immer neue Dinge entdecke, die gleichzeitig stattfinden, und ich muss mich entscheiden. Man könnte die Beispiele noch lange fortsetzen.

Ich habe jedoch realisiert, dass irgendwann im Leben eine Phase kommt, in der die Langeweile, wie in der Kindheit, wieder zurückkehren kann. Meine Mutter, eine ehemalige Mathematiklehrerin, die nach und nach ihre Mobilität verliert, aber geistig so fit ist wie vor 20 Jahren, beginnt sich im Winter, wenn die sozialen Kontakte weniger werden, zu langweilen. Trotz digitaler Angebote und trotz ihrer Fähigkeit, ChatGPT gegen Perplexity auszutauschen, als KI mit mehr recherchierten Informationen und mehr Quellenangaben. Meine Mutter, über 80, hat keine Berührungsängste mit der digitalen Welt und bewegt sich dort sehr geschickt. Aber die sozialen Kontakte und der Austausch mit Menschen aus Fleisch und Blut, und insbesondere deren Fehlen, lassen sie sich einsam und auch gelangweilt fühlen. Dennoch schafft sie es jede Woche, in die Bibliothek zu gehen und sich sechs neue Bücher auszuleihen, die sie in einer Woche durchliest.

Ich beobachte meine Mutter seit etwa zehn Jahren genau und möchte über ihre Probleme im Detail Bescheid wissen. Nicht, dass ich ihr wirklich helfen könnte – meistens hilft sie sich immer noch selbst und löst ihre Probleme mit Hilfe digitaler Assistenten. Aber es ist eigennützig. Wenn ich Glück habe, werde ich mit ähnlichen Themen kämpfen müssen wie sie. Was kommt auf mich zu? Wie kann ich mich darauf vorbereiten?

Aus all meinen Beobachtungen kommt mir eigentlich eine klare Lösung: ein Netzwerk. Je grösser, desto besser. Am besten sollte man es kontinuierlich erweitern und dabei besonders auf Altersgruppen achten, die sich stark von der eigenen unterscheiden. Denn mit meinen Freundinnen kommt Langeweile nie auf. Wie letzte Woche, als wir zum Mittagessen verabredet waren und es viertel nach zwölf war, als meine Freundin noch nicht da war. Als ich sie anrief und fragte, wo sie steckt, sagte sie mir, dass das Mittagessen erst morgen, am Donnerstag, sei. Ich musste sie überzeugen, dass heute bereits Donnerstag ist. Aber das kann wirklich nur jemandem passieren, der im Homeoffice arbeitet wie sie. Dafür durfte ich den Herrn am Nebentisch kennenlernen, dessen Gast ebenfalls verspätet war. So sieht keine Langeweile aus.

Boredom


From time to time, when my life gets too hectic, I wish for a few hours of boredom. As often happens, it’s a very platonic wish, one I don’t actually mean, because I find boredom awful.

I remember that my last experience with boredom was sometime in the summer when it rained non-stop for three weeks and we couldn’t play outside. I was a child back then, and there was no digital entertainment.

The rain didn’t bother me because we had built a makeshift table tennis table with the neighbor boys in our attic, with help from my father. It was made of two wooden planks that my father no longer needed, placed on a garden table and an old sewing machine. The wooden planks were shorter and narrower than a normal table tennis table, but that didn’t bother us. We felt like professionals in training camp. We played from morning until evening, interrupted only by breaks for lunch and dinner. We had no tutorial or guide on how to play the game; what we learned was through trial and error. My father explained the rules for scoring.

In that rainy summer, I learned to play table tennis decently. But on that one day, the neighbor boys had to go with their parents to visit their aunt, and I was left alone. I was bored, and I still remember that feeling of boredom to this day, even after decades. That was the last time. Since then, I’ve used the free time I have in many ways, and my problem is more the endless possibilities of what I could do – but unfortunately, they don’t fit into a day that only has 24 hours. For example, I wonder why my nightstand is still standing, even though it’s weighed down with all the unread books I absolutely have to read. Usually, when one book is taken away, two new ones come along. All these cultural offers almost drive me crazy because I keep discovering new things happening at the same time, and I have to choose. One could continue with examples like this for a long time.

However, I’ve realized that at some point in life, a phase will come where boredom, like in childhood, may return. My mother, a former math teacher, who is gradually losing her mobility but whose mind is as sharp as it was 20 years ago, begins to get bored in the winter when social contacts become sparse. Despite digital options and despite her ability to exchange ChatGPT for Perplexity, as a more researched and detailed AI. My mother, over 80, has no fear of the digital world and navigates it very skillfully. But the lack of social contacts and interaction with people in the flesh and blood, and especially their absence, makes her feel lonely and bored. Nevertheless, she manages to go to the library every week and borrow six new books, which she reads in one week.

I have been closely observing my mother for about ten years and want to know the details of her problems. Not that I could really help her – most of the time, she still helps herself and solves her problems with the help of digital assistants. But it’s selfish. If I’m lucky, I will have to deal with similar issues as she does. What’s coming my way? How can I prepare for it?

From all these observations, a clear solution comes to mind: a network. The bigger, the better. Ideally, one should continuously expand it, especially with age groups that differ significantly from one’s own. Because with my friends, boredom never strikes. Like last week, when we had arranged to meet for lunch, and by quarter past twelve, my friend still wasn’t there. When I called her to ask where she was, she told me that lunch was actually tomorrow, on Thursday. I had to convince her that today was already Thursday. But this can really only happen to someone who works from home, like she does. As a result, I got to meet the gentleman at the next table, whose guest was also late. Now, that’s not boredom.

Jamaika – Die Reise, die sich lohnt


Vor meine Abreise hatte ich Bedenken aufgrund der vielen beängstigenden Meldungen, die ich in meiner Vorbereitung gelesen hatte. Die lange Liste der notwendigen Impfungen und Warnungen vor hoher Kriminalität, etwa dass die Mordrate zu den höchsten in der westlichen Hemisphäre gehört, hatten mich sehr verunsichert. Auch Meldung wie “Jamaica is classified as medium-risk destination” beruhigte mich nicht wirklich. Der Rat “Always be accompanied by someone you know, even when going to the restroom” schien mir übertrieben paranoid.

Ich bin keine Person, die zwischen Mittelnacht und Morgengrau in Bars verkehrt oder sich die Slums aus nächster Nähe ansehen muss. Zu Beginn meines Aufenthalts war ich sehr risikoscheu und verhielt mich entsprechend vorsichtig. Doch wer nicht bereit ist, auszugehen, wird auch nie etwas entdecken. Mit einem gemieteten Auto konnte ich einen großen Teil der Insel erkunden. Der Norden ist anders als Westen und Süden und überall lohnt es sich reinzukucken. Jamaica ist definitiv eine Reise wert. Es gibt sehr gepflegte Gegenden mit unglaublichen Villen und üppigen Gärten, kleine farbenfrohe Holzhäuser mit viel Charme und auch ärmliche Baracken sowie einige Bauruinen. Aber wo gibt es diese Unterschiede nicht?

Mich haben vor allem die Bauruinen fasziniert. Einige scheinen alt und verlassen zu sein, andere sind unvollendete Bauten, die aus unerklärlichen Gründen nicht fertiggestellt wurden. Der Sonntag scheint der Waschtag zu sein, zumindest war es an einem sonnigen Tag ohne Wolken so. Die Wäscheleinen vor den Häusern waren voll behangen und die farbenfrohen Kleidungsstücke wehten fröhlich im Wind! Die Menschen sind gelassen und freundlich, immer für ein Schwätzchen zu haben und stolz auf ihr Land. Sie wollten wissen, woher ich komme, und alle, mit denen ich gesprochen habe, kannten meine Heimatland. Der Geographieunterricht in ihren Schulen muss wirklich gut sein!

Einige zu Hause, denen ich vor Abreise erzählte habe, dass ich nach Jamaica fahre, meinten,  ich würde nach Afrika reisen. Geographisch völlig falsch, aber tatsächlich stammen 90% der heutiger Einwohner aus Ghana ab, die im 17. und 18. Jahrhundert eingeschleppt wurden und auf Zuckerplantagen gratis  arbeiten mussten. Das Klima ist tropisch-feucht am Meer und gemäßigt im Hochland. Überall ist es grün und die üppige Vegetation wuchert mit beeindruckender Kraft. Die Pflanzen sind atemberaubend schön: Beim Frühstück konnte ich Delfine beobachten, die nicht weit vom Ufer spielten, sowie Kolibris. Besonders angetan haben es mir die braunen Pelikane.

Stellt euch vor, ihr lasst euch im warmen Meer treiben und plötzlich taucht nur wenige Meter entfernt ein riesiger Vogel kopfüber ins Wasser, in der Hoffnung, einen Fisch zu fangen. Was ihm nach meiner Beobachtung eher selten gelingt. Die Art und Weise, wie sie sich Nahrung beschaffen, hat mich stark fasziniert. Sie überfliegen eine Lagune relativ tief über dem Wasser, steigen dann auf und lassen sich plötzlich wie ein Stein kopfüber ins Wasser fallen. Mit mäßigem Erfolg. Die Höhe, aus der sie sich fallen lassen, ist relativ groß – schätzungsweise 10 bis 15 Meter. Sie müssen über ein Schutzmechanismus verfügen, dass sie sich keine Gehirnerschütterung bei so vielen Versuchen zuziehen.

Wenn ihr nach Jamaica reisen möchtet und wissen wollt, was sich zu besuchen lohnt, empfehle ich folgende eher volle, aber sehenswerte touristische Orte: Rick’s Café in Negril für diejenigen, die gerne aus großer Höhe ins kristallblaue Wasser springen möchten. Vorsicht, sie sind sehr amerikanisch unterwegs und verbieten alle nur ein bisschen gefährlicheren Sprünge wie Backflips. Dann die Dunn’s Watter Falls, wo man durch Wasserfälle vom Meer nach oben in unglaublich klares Süßwasser klettern kann. Auch ein Besuch ich einen botanischen Garten oder eine Vogelbeobachtungsstation, wo man Kolibris aus wenigen Zentimetern Entfernung beobachten kann, lohnt sich bestimmt. Es gibt einige.

Der Rest hängt von euren sportlichen oder anderen Vorlieben ab. Und selbstverständlich das Meer. Ich konnte mich nie sattsehen und -hören, besonders nachts, wenn alle nachtaktiven Tiere dazukommen. Zur Sicherheit: Wenn man die Sicherheitsstandards wie in anderen großen Städten einhält, ist das Reisen in Jamaica unbedenklich. Ich habe es geschafft, mich mit dem Mietauto zu verfahren, und abgesehen von riesigen Schlaglöchern bin ich nur auf hilfsbereite und nette Leute gestoßen. Das ist vielleich etwas was man wissen sollte. Die Signalisation ist eher dürftig. Die Ortschaften sind selten angeschrieben und die Einbahstrasse nicht gekennzeichnet. Paar mal mussten mich Einehimische aus so eine Einbahstrasse Labyrinth navigieren. Auch wenn sie mir versucht hatten, zu erklären wie man Einbahnstrassen in Städten erkennt , habe ich es nicht wirklich verstanden und leider war die Google Map auch nicht immer eine Eindeutige Hilfe.

Abendessen soll man dort, wo die Einheimischen essen, und nicht nur in Hotel. Für meinen Geschmack ist das Angebot auf der Insel fast überall zu fleischlastig, aber mindestens ein Fisch findet sich immer. Überraschenderweise ist Gemüse eher selten auf den Menüs, und Früchte kauft man sich am besten neben der Straße.

Nicht zuletzt die Musik und Bob Marly. Bob ist in unzähligen Bildern an allen möglichen Wänden Omnipräsent. Und einem einheimischen Band am Meeresufer am Abend bei» One Love» zuzuhören ist ein unvergessliche Erlebnis. Sich in Jamaica zu verlieben, fällt dann einem nicht schwer.

Jamaika – Weihnachten mit James Bond


Ich liebe Märchen. Es ist doch schön zu wissen, dass das Gute über das Böse siegt. Immer! Sonst ist es kein Märchen. James Bond, geschaffen von Ian Fleming, ist für mich nichts anderes als ein Märchen für Erwachsene. Das Gute besiegt das Böse. Immer! Sonst ist es kein richtiger James Bond.

Vor Kurzem hat mir ein Freund erzählt, wie Ian Fleming den Namen James Bond gefunden haben soll. Fleming suchte nach einem durchschnittlichen, eher langweiligen Namen. In seiner Bibliothek stand auch eine grosse Vogel-Enzyklopädie. Der Verfasser: James Bond. Ob die Geschichte stimmt, weiss ich nicht, aber ich finde sie grossartig. James Bond, der Vogel-Spezialist, der regelmässig die Welt rettet.

Ich verbringe dieses Weihnachten auf Jamaika. Nein, nicht wirklich wegen James Bond, sondern wegen des guten Wetters, des Meeres, des Windes und der Musik. Es ist das erste Mal, dass ich hier bin, und es ist eine Erfahrung, die sich lohnt. Der Anfang war allerdings holprig. Mein Flug hatte Verspätung, und ich machte mir Sorgen, dass der Autoverleih bereits geschlossen sein könnte. Glücklicherweise traf das nicht zu. Die Dame war noch da und übergab mir die Schlüssel.

Die Überraschung kam, als sie mir sagte, dass der Benzintank leer sei. Wie leer er war! Kaum hatte ich den Motor gestartet, zeigte die Anzeige an, dass ich tanken muss – Notreserve! Ich fragte, wo die nächste Tankstelle sei, und man sagte mir: geradeaus und dann links. Das klang nicht besonders beruhigend. Das Auto hatte keine Navigation, und draussen war es stockdunkel.

Ich fuhr los und fand nach etwa drei Kilometern tatsächlich eine Tankstelle, zu meiner grossen Erleichterung. Aber sie war menschenleer. Ich ging von Säule zu Säule und versuchte herauszufinden, wie man hier tankt. Es war dunkel, mitten in der Nacht, und ich begann leicht nervös zu werden. Nach und nach realisierte ich, dass ich weder mit Bargeld in irgendeiner Währung noch mit Kreditkarte an dieser Tankstelle tanken konnte.

Mit mulmigem Gefühl suchte ich auf der Karte nach der nächsten Tankstelle. Es gibt wahrlich angenehmere Vorstellungen, als mitten im Nirgendwo in einem Auto mit leerem Tank übernachten zu müssen. Plötzlich kamen drei Fahrzeuge mit quietschenden Reifen auf die Tankstelle gefahren. Nein, ich wurde nicht überfallen, und nein, ich musste die Nacht nicht im Auto verbringen. Ich fand eine andere, nahegelegene Tankstelle und konnte den Tank schliesslich füllen.

Jamaika hat viel zu bieten. Besonders fasziniert haben mich die Kolibris und die Pflanzenwelt. Die Insel ist unglaublich grün, es gibt Wasser im Überfluss, und ein Regenschauer hier ist ein Erlebnis. Die Qualität des Trinkwassers ist aussergewöhnlich hoch. Man kann Vogelstationen, botanische Gärten oder Abenteuerparks besuchen. Man kann Wasserfälle erklimmen oder auf einem Floss fahren.

Die Musik, der Tanz und die Gespräche mit den Einheimischen machen Jamaika zu etwas Besonderem. Die Menschen sind freundlich, hilfsbereit, und jeder hat Zeit für ein Schwätzchen. Ich kann gut nachvollziehen, warum Ian Fleming seine Bücher hier geschrieben hat.

Warum ich schiessen gelernt habe


Mein Vater ist über 80 Jahre alt, und sein körperlicher Verfall zwingt ihn buchstäblich in die Knie. Doch sein Geist ist wach und sein Erinnerungsvermögen weiterhin legendär. Er ist ein Kämpfer und Tüftler. Trotz seiner körperlichen Einschränkungen pflegt er einen grossen Gemüsegarten, in dem er im Frühling Setzlinge aus Samen zieht. Obwohl er sich weder bücken noch knien kann, hindert ihn das nicht daran, den Garten zu bewirtschaften. Anstatt zu knien, pflegt er ihn liegend. Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg.

Leider ist er auch ein unermüdlicher Sammler – allerdings kein Messie. Alle Dinge, die er aufbewahrt (und es sind viele), sind ordentlich verstaut, und er findet alles in kurzer Zeit. Er erinnert sich oft noch genau, wo und wann er die einzelnen Stücke gekauft oder erhalten hat – selbst, wenn das Jahrzehnte zurückliegt. Er hortet alles, was irgendwann einmal nützlich sein könnte.

Zu seinem Besitz gehören auch zwei Pistolen, für die er eine Waffenlizenz hat. Im Sommer erzählte er mir beim Kaffeetrinken, dass er vor hat, mir die Waffen nach seinem Tod zu vererben – mit dem Wunsch, dass ich sie behalte, quasi als Andenken an ihn. Mein Vater war und ist kein Waffennarr. Ich erinnere mich daran, wie ich als Kind mit ihm geschossen habe. Er war es, der mir das Schiessen mit einem Luftgewehr beibrachte. In der Schule hatte ich nie etwas getroffen, bis er herausfand, dass ich – obwohl Rechtshänderin – mein linkes Auge nicht schliessen kann. Er band mir das linke Auge mit einem Tuch zu, und plötzlich erzielte ich passable Ergebnisse. Das ist jetzt viele Jahre her.

Seit meiner Jugend habe ich nicht mehr geschossen, obwohl sich in unserem Keller eine grosse Waffe befand (wie sie alle wehrpflichtigen Schweizer Männer hatten). Einmal im Jahr musste ich sie für die Kellerreinigung von einer Ecke in die andere verschieben. Als mein Vater den Wunsch äusserte, mir seine zwei alten Pistolen eines hoffentlich fernen Tages zu vererben, begann ich darüber nachzudenken, was das eigentlich bedeutet. Schnell wurde mir klar, dass es sich um ein problematisches Geschenk handelt, da der Besitz solcher Waffen ohne Waffenlizenz nicht erlaubt ist. Ich habe keine Angst vor Waffen, aber ich habe grossen Respekt vor ihnen. Eine Waffenlizenz bedeutet – je nach Land – eine Überprüfung, ob man „fähig“ und „würdig“ ist, eine Waffe zu besitzen. Ich traue mir durchaus zu, eine solche Prüfung zu bestehen. Doch mir wurde ein grosses Bedürfnis, die Pistolen wirklich zu beherrschen und nicht nur pro forma zu besitzen.

Deshalb absolvierte ich am Montag im Schiessstand Bysice meine erste Ausbildungsstunde im Schiessen. Es war kalt und neblig, typisch für Anfang Dezember. Ich hatte jedoch das Glück, eine grossartige Instruktorin namens Monika zu haben: geduldig, motivierend, konsequent und erfahren – Eigenschaften, die eine gute Lehrerin auszeichnen und die sie trotz ihres jungen Alters reichlich besitzt.

Womit beginnt man? Mit Sicherheit, natürlich. Immer wieder, bis die Bewegungen automatisiert sind: Magazin herausnehmen, Lauf kontrollieren, ob leer, Sicherheitsschuss abgeben. Und wieder von vorne. Finger niemals auf den Abzug legen!

Schon nach kurzer Zeit schmerzten meine Finger und Hände vom Üben. Ich lernte, wie man die Schrotflinte hält und anlegt, und wie man die Pistole spannt. Nach vielen Trockenübungen und einer ordentlichen Portion Theorie kamen dann die ersten Schüsse. Man erschrickt dabei unweigerlich, und trotz Gehörschutz ist der Knall beeindruckend laut. Immer wieder werden die Sicherheitsregeln wiederholt und betont – bei jeder Bewegung, bei jeder Aktion. Danach geht es an die Feinheiten des Zielens, die viel Übung erfordern.

Ich weiss nun, worauf ich achten muss und wie ich zielen sollte. Aber schiessen kann ich noch nicht wirklich – ich weiss nur ungefähr, wie es geht. Dank meines Vaters habe ich dennoch etwas Neues gelernt. Falls ihr eine unglaublich geduldige Lehrmeisterin sucht, kann ich Monika auf ihrem Schiessstand in Bysice (https://www.strelnicebysice.cz/) nur empfehlen. Jetzt brauche ich die ersten 500 Schüsse, um das Erschrecken bei der Schussabgabe loszuwerden. Danach sehen wir weiter.

Die Geschichte von Irene Bobelijn – Ein Wochenende in Antwerpen


Vor einigen Jahren hatte ich das Vergnügen, das Einwanderungsmuseum in New York zu besuchen. Es war eine faszinierende und zugleich gespenstische Erfahrung. Stellt euch vor, ihr versucht, dem Hunger und der Armut zu entfliehen und wandert aus Europa in die USA aus. Nach Wochen auf einem Schiff über unruhige See erreicht ihr New York. Die Behörden führen verschiedene Tests durch und teilen euch dann mit, dass ein Mitglied eurer Familie nicht ins Land gelassen wird und nach Europa zurückkehren muss. Was würdet ihr tun? Geht ihr alle wieder zurück? Schickt ihr die Person allein zurück, oder teilt ihr euch auf? Diese Fragen habe ich mir damals gestellt, und noch heute erinnere ich mich an das Unwohlsein, das ich in dieser Ausstellung in New York empfand, als ich versuchte, mich in diese Situation zu versetzen.

Nun bin ich für ein Wochenende in Antwerpen und besuche das Red Star Line Museum. Dieses Museum beschreibt den Ausgangspunkt der Auswanderungsreise von Europa nach Amerika. Aus Antwerpen sind unzählige Europäer nach Amerika aufgebrochen, getrieben von denselben Gründen wie heute: fehlende wirtschaftliche Perspektiven, Armut und Verfolgung. Das Museum im Hafen ist definitiv einen Besuch wert, und hier habe ich eine der atemberaubendsten Geschichten von unserer Museumsführerin gehört.

Die Geschichte handelt von der Familie Bobelijn. Der Vater wanderte zuerst in die USA aus, während die Mutter mit drei Jungs und der kleinen Irene in Europa zurückblieb. Nachdem sich der Vater in den USA etabliert hatte, holte er seine Familie nach. Die Mutter und vier Kinder bestiegen ein Schiff der Red Star Line Richtung USA. Die Überfahrt in der dritten Klasse war alles andere als eine Ferienreise: beengte Verhältnisse, keine Privatsphäre, eintöniges Essen und vielleicht auch noch Seekrankheit obendrauf. Bei der Ankunft in New York wurde bei der achtjährigen Irene eine ansteckende Augenkrankheit diagnostiziert. Sie durfte nicht in die USA einreisen. Der Rest der Familie hingegen durfte einreisen.

Stellt euch vor, ihr müsstet diese Entscheidung treffen: Am Ufer wartet euer Mann, den ihr seit mehreren Jahren nicht gesehen habt, und ihr müsst entscheiden, ob ihr alle wieder nach Europa zurückkehrt und es später erneut versucht, oder ob ihr die kleine Irene allein zurückschickt. Eine Option, dass die Jungs zum Vater gehen und die Mutter mit Irene zurückkehrt, stand nicht zur Auswahl, da die Behörde minderjährige Jungs nicht allein ins Land ließ. Wie hättet ihr entschieden?

Die Mutter schickte die kleine Irene allein nach Antwerpen zurück. Nach einem Jahr versuchte es Irene erneut, wurde aber wieder abgewiesen und musste zurückreisen. Sie lebte weitere vier Jahre in einer Pflegefamilie, und erst beim dritten Versuch klappte es. Eine wahre Horrorvorstellung für jedes Kind und jede Familie.

Solche Geschichten wiederholen sich wahrscheinlich täglich in abgewandelter Form, und wir können sie uns oft nicht vorstellen. Vielleicht werden unsere Nachfahren in 80 Jahren von den Geschichten von heute erfahren.

Ebenfalls spannend war zu erfahren, dass die Red Star Line eine europäische Vertriebsorganisation für den Billettverkauf hatte. In der Schweiz war das Büro in Luzern. Falls ihr Vorfahren habt, die nach Amerika ausgewandert sind, lässt sich in digitalisierten Archiven nach ihnen suchen.


Antwerpen war für mich eine wahre Entdeckung. Es ist eine Stadt, die eine Reise wert ist. Beispielsweise die vielen Rubens-Bilder in der unglaublich weitläufigen Kathedrale, die lebendige Altstadt, die Gelassenheit trotz der Menschenmassen, die Tatsache, dass im November bis spät in der Nacht draußen gegessen, Karten gespielt, diskutiert und gelacht wird, der Hafen, die Museen, die beeindruckende Bahnhofshalle und die unzähligen spannenden Gebäude in der Stadt, die vielen Restaurants und Museen. Falls ihr ein paar Tage Zeit habt, ist Antwerpen auch bei Nebel sehr empfehlenswert.

Sicherheitsgefühl in der Schweiz


Als Studentin habe ich in Norwegen gearbeitet. Ein wunderschönes Land. Eines Tages war ich mit meinen norwegischen Kollegen unterwegs, als einer plötzlich sagte: „Sieh mal, unser König,“ und mit dem Kopf in Richtung eines älteren Herrn nickte, der ganz allein auf der anderen Straßenseite ging. Zum einen sah dieser Mann überhaupt nicht aus wie ein König – vielleicht hatte ich damals eine ziemlich naive Vorstellung von Königen. Und zum anderen war er völlig allein unterwegs. Ob so etwas heute in Oslo noch möglich wäre, weiß ich nicht. In der Schweiz kann es durchaus vorkommen, dass man einem Bundesrat oder, noch häufiger, einem ehemaligen Bundesrat einfach so auf der Straße begegnet.

Zum Beispiel wohnt ein ehemaliger Bundesrat bei uns im Haus. Ein sehr netter Herr. Wir treffen uns oft am Briefkasten, im Aufzug oder im Treppenhaus. Es ist ein gutes Gefühl, sich sicher zu fühlen. In der Schweiz fühle ich mich sicher – warum auch nicht? Viele Kinder gehen hier schon früh ganz allein in den Kindergarten. Mir fällt auch keine einzige Gegend in der Schweiz ein, in der ich jemals Angst gehabt hätte. Es ist vielleicht ratsam, den Bahnhof Oerlikon am Wochenende zwischen 1 und 4 Uhr morgens zu meiden, um Konflikten mit Betrunkenen oder anderweitig beeinträchtigten Personen aus dem Weg zu gehen. Aber die Wahrheit ist, dass ich, selbst wenn ich um diese Zeit am Bahnhof Oerlikon sein müsste, großen Respekt, aber keine Angst hätte. Dieses Sicherheitsgefühl, das so selbstverständlich erscheint, ist ein Geschenk von großem Wert.

Als junge Studentin lebte ich noch in einem Land, in einem heruntergekommenen Viertel, wo neben vielen tollen Menschen auch einige merkwürdige Gestalten unterwegs waren. Wenn ich im Dunkeln nach Hause musste, fühlte ich mich oft unwohl. Also beschloss ich, mich zu bewaffnen. Eine Waffe bringt jedoch nichts, wenn man nicht bereit ist, sie im Notfall auch einzusetzen. Allein der Wille reicht nicht – man muss in der Lage sein, sich tatsächlich zu verteidigen. Die einzige Waffe, die ich wirklich beherrsche, ist der Degen. Also begann ich, einen silbernen Degen wie ein Musketier mit mir zu tragen. Mein Degen war nicht scharf, und die Spitze war abgerundet. Jemanden damit zu verletzen wäre wohl nur möglich gewesen, wenn die Klinge gebrochen wäre. Dennoch gab mir mein Degen ein Gefühl von Sicherheit, und ich bewegte mich ohne Angst auch nachts in diesem Viertel. Nur einmal kam es beinahe zu einem Unfall.

Es war etwa 20 Uhr an einem Winterabend, stockdunkel, und das Licht im Hausflur funktionierte wieder einmal nicht richtig. Ich konnte kaum etwas erkennen, als plötzlich ein Schatten auftauchte. Jemand hatte sich im Dunkeln an meiner Wohnungstür versteckt. Ein Schreck durchfuhr mich, und mein Adrenalinspiegel schoss in die Höhe. Alle möglichen Optionen gingen mir in einem Bruchteil einer Sekunde durch den Kopf: Ich hätte laut schreien können, doch in diesem Haus hätte das wohl kaum jemanden interessiert, denn ständig stritt hier jemand oder schrie im Rausch herum. Ich hätte weglaufen können – doch wohin und mit welchem Ergebnis? Also entschied ich mich für meinen Degen und bereitete mich sofort darauf vor, mich zu verteidigen.

Da sagte der Schatten plötzlich „Baff“ – und ich erkannte die Stimme meines idiotischen Kollegen David. Er wollte mich erschrecken, und es fehlte nicht viel, und ich hätte ihn womöglich ernsthaft verletzt. Ein dämlicher Witz! Solche unpassenden Scherze machte er ständig. Dabei hatte er Kummer und wollte mit mir sprechen. Warum jemand, der Kummer hat, solche Witze macht, verstehe ich bis heute nicht.

Ich weiß, was es bedeutet, allein unterwegs Angst zu haben, und ich schätze es, heute keine Angst haben zu müssen, wenn ich allein unterwegs bin. Danke, Schweiz.

Anja


Meine Freundin Anja ist gebürtige Russin, lebt aber schon seit einer Ewigkeit in der Schweiz. Sie hat sich kulturell gut angepasst und eine erfolgreiche Karriere gemacht. Anja ist unglaublich hilfsbereit, lustig und hat ein großes Herz. Zeit mit ihr zu verbringen, ist immer ein Genuss. In bestimmten Bereichen ist sie jedoch sehr eigen, und auch die vielen Jahre in der Schweiz haben bei ihr kaum Spuren hinterlassen – zumindest was die Pünktlichkeit angeht. Ich bin es gewohnt, dass sie oft zu spät kommt. Nicht immer, aber fast immer. Deshalb treffe ich mich nur an Orten mit ihr, wo mir das Warten nichts ausmacht. Am besten ist es ohnehin, wenn sie zu mir nach Hause kommt. Dann ist es mir herzlich egal, ob Anja um 19 Uhr oder erst um halb neun auftaucht.

Neulich haben wir uns wieder verabredet, und aus Erfahrung schlug ich vor, dass sie zum Abendessen zu mir kommt. Gesagt, getan. Ich sagte ihr absichtlich 18 Uhr, weil ich wusste, dass sie ohnehin vor 20 Uhr nicht erscheinen würde. Auch beim Kochen habe ich mir nicht viel Stress gemacht, alles zu einer bestimmten Uhrzeit fertig zu haben. Um 20 Uhr habe ich dann relativ allein gegessen. Anja anzurufen, bringt sowieso nichts, weil sie nie ans Telefon geht. Früher habe ich mir bei ihrer Verspätung Sorgen gemacht und versucht, herauszufinden, was los ist. Aber das mache ich schon lange nicht mehr, weil ich weiß, dass es nichts bringt. Irgendwann taucht sie mit einem breiten Lächeln auf, als wäre nichts gewesen.

An diesem Abend kam Anja allerdings gar nicht mehr, und da ich noch ein paar Dinge zu erledigen hatte, habe ich den Abend einfach der Arbeit gewidmet.

Am nächsten Tag war Jacob bei mir zu Besuch, als es um 19 Uhr an der Tür klingelte. Anja stand da und begrüßte mich wie immer überschwänglich.
„Anja“, fragte ich sie verwundert, „wir hatten doch gestern abgemacht?“
Ganz gelassen antwortete Anja: „Meine Liebe, ich konnte nicht früher,“ küsste mich auf die Wange und begann, sich die Schuhe auszuziehen.

Wir hatten einen tollen Diskussionsabend zu dritt, nur das Essen war für drei etwas knapp bemessen. Aber das ist typisch Anja.

Die Ehe von Norma und Thomas


Ich war zum Abendessen verabredet. Kaum im Restaurant angekommen, läutete mein Telefon, und meine beste Freundin erklärte mir, dass sie im Stau steckte und mindestens eine halbe Stunde zu spät kommen würde. Das ist nichts Ungewöhnliches und passiert ihr fast jedes Mal. Ich regte mich nicht auf. Eigentlich wollte ich meine E-Mails lesen, doch die Konversation am Nebentisch zog mich in ihren Bann und faszinierte mich. Ich hörte zu. Die Lautstärke der Unterhaltung machte es leicht, ohne jegliche Anstrengung alles zu verstehen. Hier ist, was ich mitbekommen habe:

Norma und Thomas haben sich an der Universität kennengelernt. Beide studierten Jura. Nach ihrem erfolgreichen Abschluss absolvierten sie noch das Anwalts-Patent. Sie zogen zusammen und planten ihre gemeinsame Zukunft. Vereinbart waren zwei Karrieren und das Teilen der familiären Pflichten. Es ist nun 33 Jahre her, dass sie geheiratet haben. Im ersten Jahr ihrer Ehe kam ihr Sohn zur Welt, doch er wurde mit einem Herzfehler geboren. Bis zu seinem dritten Lebensjahr wurde er dreimal operiert. Diese Zeit war extrem schwierig für alle, da es lange unklar war, ob der Junge überleben würde und ob bleibende Schäden in seiner Entwicklung zu erwarten seien. An eine Rückkehr von Norma in ihren anspruchsvollen Beruf war bei all den Arztterminen nicht zu denken. Norma blieb zu Hause und kämpfte mit aller Kraft um das Leben und die Gesundheit ihres Sohnes. Nach vier Jahren konnte man sagen, dass sie es geschafft hatte. Kurz danach kam erst eine Tochter, dann noch eine zweite Tochter zur Welt. Mit drei Kindern, von denen eines gesundheitlich nicht ganz unproblematisch war, war es im Schweizer Betreuungssystem undenkbar, dass Norma in die Berufswelt zurückkehren konnte.

Am Anfang, nach der Geburt des ersten Sohnes, engagierte sich Thomas stark und unterstützte Norma, indem er einige Arzttermine mit ihr wahrnahm. Doch das hielt nur so lange an, bis klar war, dass der Junge überleben würde. Danach reduzierte er sein Engagement stark, und schließlich war es Norma, die zur Familienmanagerin wurde, während er das Geld verdiente. Thomas war ein ausgezeichneter Jurist und verdiente viel Geld. Die Termine, die die Familie betrafen, organisierte dann ausschließlich Norma. Thomas war nicht ein einziges Mal bei einem Schultermin. Das Leben der letzten 33 Jahre von Norma und Thomas verlief zwar im gleichen Raum, aber wie in parallelen Welten.

Mittlerweile sind alle drei Kinder ausgezogen. Der Sohn arbeitet, und die beiden Mädchen studieren noch, aber sie wohnen nicht mehr zu Hause. Der Auszug des letzten Kindes traf Norma hart. Der Alltag von Norma und Thomas sah immer gleich aus: Am Morgen machte sich Thomas für die Arbeit fertig, küsste Norma auf die Stirn und verschwand ins Büro, ohne zu sagen, wann er nach Hause kommen würde. Norma kochte das Abendessen, aber immer öfter aß sie allein, da Thomas bis spät in den Abend arbeitete. Wenn er schließlich nach Hause kam, war er müde und hungrig und hatte keine Lust auf eine Unterhaltung. Er aß das Abendessen, ohne sich zu bedanken, und schaute dann Sport im Fernsehen. Danach küsste er Norma auf die Stirn und ging schlafen. Norma räumte die Küche auf und ging dann auch ins Bett.

Auch am Wochenende unternahmen sie nicht viel zusammen, denn Thomas wollte Sport treiben, und für Kultur interessierte er sich nicht wirklich. Norma fühlte sich immer einsamer.

Das war der allgemeine Hintergrund, den ich verstanden habe. Die eigentliche Konversation drehte sich jedoch darum, dass Norma am Wochenende Thomas die Scheidung vorschlug. Sie hatte die Scheidungspapiere vorbereitet, einen Vorschlag zur Aufteilung des Vermögens und eine Lösung der Wohnsituation. Thomas war schockiert und völlig unvorbereitet. Norma erzählte ihrer Freundin, dass er immer wiederholte, er verstehe überhaupt nicht, warum sie sich scheiden lassen wolle. Sie hätten doch ein tolles Leben. Norma fragte sich, ob sie Thomas zu wenig gesagt hatte, wie unglücklich sie mit ihrem gemeinsamen Leben war.

In diesem Moment kam meine beste Freundin an, und ich hörte den weiteren Verlauf der Konversation am Nebentisch nicht mehr. Ich weiß nicht einmal, ob Thomas die Scheidung akzeptiert hat. Ganz ehrlich, ich habe Normas Bedürfnis nach Veränderung vollkommen verstanden.