Lisa und Isa


Die kleine Anna wollte schon immer ein Haustier – egal welches, hauptsache etwas Lebendiges. Da sich die Diskussion mit ihren Eltern über einen Hund oder eine Katze als schwierig gestaltete, brachte sie nach Hause, was sich draußen so bewegte. Es gab Regenwürmer, Kaulquappen, Schnecken, Zikaden, Schmetterlinge und Ähnliches. Anna pflegte die Tiere und ließ sie meistens nach einer bestimmten Zeit wieder frei.

Eines Tages bot Vivien ihr zwei Mäuse an. Natürlich musste man Anna nicht lange überzeugen. Ihre Antwort war sofort “Ja!” – die eigentliche Frage war eher, wie sie ihre Eltern überzeugen könnte. Nicht überraschend erwies sich die Diskussion am Abend als schwierig. Trotz Annas taktischem Geschick wollten die Eltern nichts von Mäusen wissen. Anna war ziemlich deprimiert. Sie verweigerte ihr Lieblingsessen und lehnte auch den angebotenen Film ab. Sie zog sich in ihr Zimmer zurück und blätterte in ihrer großen Tier-Enzyklopädie, die sie vor zwei Jahren von ihrer Großmutter zu Weihnachten bekommen hatte. Die Bilder trösteten sie jedoch nicht. Anna hatte eine unermessliche Sehnsucht nach etwas Lebendigem, um das sie sich kümmern konnte.

Währenddessen diskutierten die Eltern, ob es vielleicht doch möglich sei, zwei kleinen Mäusen ein Heim zu geben. Es könnte für Anna von Vorteil sein, dachten sie. Die Mutter besuchte Anna in ihrem Zimmer und fragte sie, wie lange solche Mäuse leben würden. Anna wusste es nicht, also begannen beide, nach Informationen zu suchen. Sie fanden heraus, dass Mäuse eine Lebensdauer von etwa zwei Jahren haben. Für die Mutter schien das ein überschaubares Risiko zu sein – einer Schildkröte hätte sie nie zugestimmt.

Und so zogen bei den Müllers zwei kleine Mäuse ein: Lisa und Isa. Der Vater besorgte zusammen mit Anna aus zweiter Hand ein großes Terrarium, und Anna richtete ihren beiden Mäusen ein bequemes und liebevolles Heim ein. Nach der Schule schloss Anna immer die Tür zu ihrem Kinderzimmer ab und ließ die Mäuse darin frei herumlaufen. Die Eltern schauten ab und zu nach, ob alles in Ordnung war, aber es war gar nicht nötig. Anna kümmerte sich sehr gewissenhaft und vorbildlich um Lisa und Isa. Wochen, Monate und schließlich Jahre vergingen. Mittlerweile war Anna ein Teenager, und die beiden Mäuse hatten fast vier Jahre bei ihnen gelebt. Das Fell der Mäuse war an den Seiten weiß geworden, aber das fortgeschrittene Alter schien ihnen keine Probleme zu bereiten.

Eines Tages, als Anna von der Schule nach Hause kam, bewegte sich Lisa nicht mehr. Sie war tot. Isa saß gedrängt neben der toten Lisa und rührte sich nicht. Anna traute sich nicht, die tote Lisa wegzunehmen. Sie war zutiefst erschüttert über den Tod der kleinen Maus, aber noch mehr Sorgen machte sie sich um Isa. Die Maus, die ihr ganzes Leben lang nie allein war und alles geteilt hatte, war plötzlich allein. Anna wusste nicht, wie man eine Maus tröstet oder ihr helfen konnte.

Anna holte Rat bei Vivien, von der sie Lisa und Isa bekommen hatte und die für Anna die größte Mäuse-Expertin war. Vivien war besorgt und sagte, dass Isa nicht allein bleiben könne – sonst würde sie auch sterben. Deshalb beschlossen Anna und Vivien, dass Anna ihre Isa zu den Mäusen von Vivien bringt. Das war jedoch nicht so einfach, denn obwohl Isa ursprünglich aus Viviens Terrarium stammte, akzeptierten die Mäuse, die dort heute lebten, Isa mit grosse Wahrscheinlichkeit nicht. Vivien bereitete daher ein Kamillebad vor und badete alle ihre Mäuse darin. Die Mäuse waren zwar wenig begeistert, aber Viviens Finger entkam keine. Schließlich badete auch Anna ihre Isa im Kamillebad. Der ganze Raum roch nach Kamille. Schweren Herzens ließ Anna ihre Isa zu Viviens Mäusen, die sofort anfingen, Isa zu beschnuppern. Die Akzeptanz war da, und so hatte Isa ein neues Zuhause in einer Gemeinschaft gefunden.

Vivien erklärte Anna, dass Isa, wenn sie nicht gebadet worden wäre und anders gerochen hätte, möglicherweise von den anderen Mäusen gebissen worden wäre.

Damit war das Kapitel der Haustiere für Anna abgeschlossen. Lisa wurde unter Tränen im Garten begraben, das Terrarium wurde wieder verkauft – sogar zum gleichen Preis wie damals gekauft – und Anna musste ihrer Mutter erklären, dass die Lebensdauer von zwei Jahren nur in freier Natur gilt. Unter stressfreien Bedingungen mit genügend Futter kann sich die Lebensdauer verdoppeln.

Anna hat gelernt, wie wichtig es ist, den gleichen „Stallgeruch“ zu haben, um in eine Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Was bei den Mäusen gilt, ist bei den Menschen nicht anders – nur sind die Lösungen, die bei Mäusen funktionieren, bei Menschen kaum umsetzbar.

Die Ehe von Norma und Thomas


Ich war zum Abendessen verabredet. Kaum im Restaurant angekommen, läutete mein Telefon, und meine beste Freundin erklärte mir, dass sie im Stau steckte und mindestens eine halbe Stunde zu spät kommen würde. Das ist nichts Ungewöhnliches und passiert ihr fast jedes Mal. Ich regte mich nicht auf. Eigentlich wollte ich meine E-Mails lesen, doch die Konversation am Nebentisch zog mich in ihren Bann und faszinierte mich. Ich hörte zu. Die Lautstärke der Unterhaltung machte es leicht, ohne jegliche Anstrengung alles zu verstehen. Hier ist, was ich mitbekommen habe:

Norma und Thomas haben sich an der Universität kennengelernt. Beide studierten Jura. Nach ihrem erfolgreichen Abschluss absolvierten sie noch das Anwalts-Patent. Sie zogen zusammen und planten ihre gemeinsame Zukunft. Vereinbart waren zwei Karrieren und das Teilen der familiären Pflichten. Es ist nun 33 Jahre her, dass sie geheiratet haben. Im ersten Jahr ihrer Ehe kam ihr Sohn zur Welt, doch er wurde mit einem Herzfehler geboren. Bis zu seinem dritten Lebensjahr wurde er dreimal operiert. Diese Zeit war extrem schwierig für alle, da es lange unklar war, ob der Junge überleben würde und ob bleibende Schäden in seiner Entwicklung zu erwarten seien. An eine Rückkehr von Norma in ihren anspruchsvollen Beruf war bei all den Arztterminen nicht zu denken. Norma blieb zu Hause und kämpfte mit aller Kraft um das Leben und die Gesundheit ihres Sohnes. Nach vier Jahren konnte man sagen, dass sie es geschafft hatte. Kurz danach kam erst eine Tochter, dann noch eine zweite Tochter zur Welt. Mit drei Kindern, von denen eines gesundheitlich nicht ganz unproblematisch war, war es im Schweizer Betreuungssystem undenkbar, dass Norma in die Berufswelt zurückkehren konnte.

Am Anfang, nach der Geburt des ersten Sohnes, engagierte sich Thomas stark und unterstützte Norma, indem er einige Arzttermine mit ihr wahrnahm. Doch das hielt nur so lange an, bis klar war, dass der Junge überleben würde. Danach reduzierte er sein Engagement stark, und schließlich war es Norma, die zur Familienmanagerin wurde, während er das Geld verdiente. Thomas war ein ausgezeichneter Jurist und verdiente viel Geld. Die Termine, die die Familie betrafen, organisierte dann ausschließlich Norma. Thomas war nicht ein einziges Mal bei einem Schultermin. Das Leben der letzten 33 Jahre von Norma und Thomas verlief zwar im gleichen Raum, aber wie in parallelen Welten.

Mittlerweile sind alle drei Kinder ausgezogen. Der Sohn arbeitet, und die beiden Mädchen studieren noch, aber sie wohnen nicht mehr zu Hause. Der Auszug des letzten Kindes traf Norma hart. Der Alltag von Norma und Thomas sah immer gleich aus: Am Morgen machte sich Thomas für die Arbeit fertig, küsste Norma auf die Stirn und verschwand ins Büro, ohne zu sagen, wann er nach Hause kommen würde. Norma kochte das Abendessen, aber immer öfter aß sie allein, da Thomas bis spät in den Abend arbeitete. Wenn er schließlich nach Hause kam, war er müde und hungrig und hatte keine Lust auf eine Unterhaltung. Er aß das Abendessen, ohne sich zu bedanken, und schaute dann Sport im Fernsehen. Danach küsste er Norma auf die Stirn und ging schlafen. Norma räumte die Küche auf und ging dann auch ins Bett.

Auch am Wochenende unternahmen sie nicht viel zusammen, denn Thomas wollte Sport treiben, und für Kultur interessierte er sich nicht wirklich. Norma fühlte sich immer einsamer.

Das war der allgemeine Hintergrund, den ich verstanden habe. Die eigentliche Konversation drehte sich jedoch darum, dass Norma am Wochenende Thomas die Scheidung vorschlug. Sie hatte die Scheidungspapiere vorbereitet, einen Vorschlag zur Aufteilung des Vermögens und eine Lösung der Wohnsituation. Thomas war schockiert und völlig unvorbereitet. Norma erzählte ihrer Freundin, dass er immer wiederholte, er verstehe überhaupt nicht, warum sie sich scheiden lassen wolle. Sie hätten doch ein tolles Leben. Norma fragte sich, ob sie Thomas zu wenig gesagt hatte, wie unglücklich sie mit ihrem gemeinsamen Leben war.

In diesem Moment kam meine beste Freundin an, und ich hörte den weiteren Verlauf der Konversation am Nebentisch nicht mehr. Ich weiß nicht einmal, ob Thomas die Scheidung akzeptiert hat. Ganz ehrlich, ich habe Normas Bedürfnis nach Veränderung vollkommen verstanden.