Der Nachbar ist gestorben

Noch vor ein paar Tagen habe ich mit ihm gesprochen, war mit seinem Hund im Wald rennen. Vor nicht allzu langer Zeit, sass ich mit meinem Jüngsten, mit ihm und seiner Frau an ihrem Tisch, haben gesessen und Wein getrunken. Jetzt ist er tot. Rational verstehe ich es, emotional ist sehr schwierig zu akzeptieren, dass ich ihn nie mehr treffen werde.

Ich habe ihn so gekannt, wie man einen guten Nachbarn kennt. Seine Lebensgeschichte gehört, die Entwicklungen in der Familie mitgekriegt, seinen Perfektionismus beim Bau des Hauses beobachtet, ihn um Hilfe gebeten, wenn mir ein Mann in Haus fehlte. Zum Beispiel konnte ich den Deckel vom AdBlue Tank am Auto nicht öffnen. Für ihn eine Wahre Banalität.

Wir haben seit dem letzten Jahr gewusst, dass er nur noch Wochen, vielleicht Tage hat. Das bedeutet aber nicht, dass man sich wirklich auf den Tag vorbereiten kann, wenn er nicht mehr da ist.

Wir haben den Tod ausgelagert. Obwohl die Mehrheit von uns sich wünscht, zu Hause zu sterben, nur einem Bruchteil unsere Gesellschaft gelingt es. Dem Nachbarn ist es dank der Ausbildung, Erfahrung und unendlicher Arbeit seiner Frau – eine Krankenschwester mit Intensivstation Erfahrung – gelungen. Sie hat in der Zeit fast 10 Kilo abgenommen. Der Tod ist in unsere Gesellschaft nicht mehr natürlich. Wir sehen und hören den Tod mehrmals täglich in den Nachrichten, aber es ist wie ein Film, den man anschaut. Weit Weg und nicht real. Der Tod ist in unsere Gesellschaft steril geworden, und macht den Eindruck, einen persönlich nicht zu betreffen.

Ich mag mich erinnern, wie ich in der östlichen Slowakei unterwegs war und wie ich gestaunt hatte, wie anders man mit dem Tod umgehen kann. Aus Portemonnaies wurden Fotos von Verstorbenen hergezaubert, die wie Schlafende aussahen und in schöner Umgebung mit Stolz präsentiert wurden. Ich weiss, wie man dort bei den Toten, die sehr oft zu Hause starben, Wache gehalten hatte. Ich mag mich heute noch an die Verabschiedungsrituale erinnern. Aber vielleicht hat es auch mit unserem fehlenden Glauben zu tun. Wenn es nach dem Tod Nichts gibt, ist der Tod etwas Tragisches, weil Alles auf einen Schlag endet. Wenn der Glaube da ist, dass die Seele sich in eine andere (und vielleicht noch wesentlich bessere) Welt begibt, kann man einfacher loslassen, da eine Begegnung wieder möglich ist.

Die Friedhöfe in Europa beginnen sich zu leeren. Soweit ich weiss, wollte der Nachbar auch nicht auf einem Friedhof beerdigt werden. Ich habe das Thema mit meinen Eltern besprochen und weiss, wo sie beerdigt sein wollen. Für mich kann ich die Frage noch nicht abschliessend beantworten. Dem Wunsch meiner Mutter, zusammen mit ihr in ihrem Grab beerdigt zu sein, kann ich aber nicht entsprechen. Auch ich finde mittlerweile die Friedhöfe als beengend, obwohl ich sie, egal wo ich bin, gerne besuche. Ich liebe es, über die Leute und ihre mir unbekannten Geschichten nachzudenken. Ich liebe die Ruhe und den Frieden des Ortes. Ich bin froh, dort mit meiner Endlichkeit konfrontiert zu werden und darüber nachzudenken, wofür es sich lohnt Zeit auf dieser Erde zu verwenden und worum es durch diese Endlichkeit Schade um Zeit ist.

Der Nachbar ist gestorben. Ich werde ihn vermissen. Er hat immer geholfen, wo er helfen konnte. Auf seine nächste Reise wünsche ihm gutes Gelingen. Seiner Frau wünsche ich viel Kraft für die Zeit ohne ihn..

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