
Einer meiner besten Freunde ist Arzt. Besser gesagt, Kinderarzt. Ich kenne ihn schon seit Ewigkeiten. Unsere Freundschaft basiert auf gegenseitigem Respekt, gemeinsamen Werten und Ansichten sowie einer tiefen Seelenverwandtschaft. Als wir noch jung waren, haben wir eine Zeit lang mit der Idee gespielt, mehr als Freunde zu werden. Wir haben uns jedoch bewusst entschieden, fantastische Freunde zu bleiben, weil diese Freundschaft wirklich ein Leben lang halten kann.
Er kennt mich gut, und ich kenne ihn ebenso gut. Wir kennen gegenseitig unsere Lebensgeschichten und helfen uns, wenn es nötig ist. Er ist ein ausgezeichneter Arzt und kann unglaublich gut mit Kindern und Eltern umgehen. Reich wurde er durch seinen Beruf nicht, aber er ist zufrieden. Einmal habe ich ihn vor vielen Jahren in seiner Praxis besucht. Das war noch zu der Zeit, als die Akten in Papierform vorlagen. Ich sah mehrere Dossiers, die in Mappen unterschiedlicher Farben sortiert waren. Es gab grüne, gelbe und rote Mappen. Ich fragte ihn damals, ob das ein gestalterisches Element in seiner ansonsten vollständig weißen Praxis sei. Er sagte nein. Er erklärte mir, dass er die Eltern, insbesondere die Mütter (da zu 98 % Frauen mit den Kindern als Begleitpersonen kamen), in drei Kategorien einteilt. Die grünen Dossiers gehörten Eltern, die schnell begreifen, man muss ihnen nicht viel erklären, und er ist sich sicher, dass diese Eltern zu 100 % im Interesse des Kindes handeln und sich an die Empfehlungen halten werden. Die gelben Dossiers sind für diejenigen Eltern, die entweder sprachlich oder intellektuell Schwierigkeiten haben, den Empfehlungen zu folgen. Hier muss er Wege finden, wie er es ihnen langsamer, anders oder mehrfach erklärt, damit sichergestellt ist, dass das Kind die notwendige medizinische Versorgung erhält. Die roten Dossiers gehörten den gefährlichen Eltern. Das waren diejenigen, die die Gesundheit des Kindes gefährden könnten, und bei denen er besonders aufpassen musste, um spezielle Lösungen zu finden. Diese Eltern folgten dogmatischen Ansichten oder er war sich nicht sicher, ob sie das Kind physisch oder psychisch misshandeln oder Mitglieder von Sekten waren.
Er erklärte mir, dass er sehr viele Patienten hat und oft unter Zeitdruck steht. So stellt er sicher, dass er nichts übersieht und schnell Unterstützung erhält, um mit den Eltern oder dem jeweiligen Fall umzugehen.
Erst jetzt ist mir aufgefallen, dass die Mehrheit der Dossiers auf seinem Schreibtisch grün war, zwei gelb und nur eines rot.
Er hat eine Arbeit in Libyen angenommen, und wir sahen uns einige Jahre nicht. Als er zurückkam und wir uns wieder trafen, wirkte er besorgt. Er hatte eine erwachsene Tochter und bekam ein Enkelkind. Grund zur Freude. Doch seine Tochter, hatte sich während seiner Abwesenheit unter dem Einfluss ihres Mannes in eine Richtung entwickelt, die er nicht für möglich gehalten hatte. Ihr Sohn sollte nicht geimpft werden – gegen keine der Kinderkrankheiten, auch nicht gegen Tetanus. Mein Freund war sehr traurig. Er erzählte mir, dass er nur ein einziges Mal in seiner Karriere erlebt hatte, wie ein ungeimpftes Kind starb, und es war einfach nur schrecklich. Damals war er noch in der Ausbildung, und die Ohnmacht, als die Ärzte damals für das Kind nichts mehr tun konnten, spürte er noch heute. Er hatte sich damals geschworen, alles Menschenmögliche zu tun, um so etwas zu verhindern. Es sind ihm Patienten gestorben, aber kein einziges Kind wegen fehlender Impfungen.
Er war ratlos und sehr besorgt. Seine Tochter verweigerte auch regelmäßigen Kontakt, und er durfte seinen Enkel nicht allein sehen, als hätte seine Tochter befürchtet, dass er heimlich ihr Kind impfen würde. So wie ich ihn kenne, wäre ihm so etwas nicht einmal in den Sinn gekommen. Mit der Zeit sind seine Tochter und sein Enkel vollständig aus seinem Leben verschwunden. Die Tochter blockierte jede Kontaktaufnahme und verweigerte sich vollständig.
Ich wollte wissen, ob er zu oft für Impfungen eingetreten ist oder ob es Streitigkeiten gab. Er verneinte beides. Er hatte seiner Tochter einmal seine Meinung zur Impfung gesagt, die sie sowieso schon kannte, und danach haben sie nie wieder darüber gesprochen.
Da es seine einzige Tochter war, war er plötzlich wie kinderlos. Aus dem Leben der Nachfolgegeneration verbannt. Es tut mir leid für ihn, aber ich kann ihm diesmal nicht helfen. Ich weiß nicht wie.