Vergessener Hochzeitstag

Mein Vater, fast 80 Jahre alt, hatte den Hochzeitstag vergessen. Das passiert ihm immer wieder, weil meine Eltern zu Ostern heirateten. Ostern merkt man sich einfach, aber da es jedes Jahr auf ein anderes Datum fällt, ist es als Gedächtnisstütze nur bedingt hilfreich.

Als er merkte, dass er wieder mal den Hochzeitstag vergessen hatte, war es schlechthin zu spät ein kleines Geschenk zu organisieren. Er war mit meiner Mutter in einem Ferienhaus, das sich mitten in Wald, weit entfernt von der Zivilisation, befand.

Zumindest eine Blume brauchte es aber. In der freien Natur waren um diese Zeit noch nicht so viele Blüten vorhanden. Ihm sind aber Dotterblumen in den Sinn gekommen. Er legte Gummistiefel an und marschierte in den Wald. Dotterblumen brauchen Wasser. Darum wachsen sie nahe Wasserquellen, meistens im Schlamm. Mein Vater hat keine Berührungsängste und stürzte sich in dem Schlamm und sammelte bis er einen Arm voll Blumen hatte. Dann wollte er zurückkehren. Aber Oje!! Er steckte fest. Der Schlamm hat keinen festen Boden und er sank langsam immer tiefer. Er versuchte sich zu befreien, aber eigentlich machten seine Versuche alles noch schlimmer. Er sank immer tiefer ein.

Nach weiteren erfolglosen Versuchen gab er diese Technik auf. Er schlüpfte aus den feststeckenden Stiefeln, legte sich vorsichtig auf den Boden und robbte langsam wie ein Regenwurm aus dem Schlamm zu festem Boden. Die gesamte Übung dauerte über eine dreiviertel Stunde. Mein Vater ist den leiblichen Genüssen nicht abgeneigt und dementsprechend sieht auch sein Bauchumfang aus. Er ist wirklich gross. Stellen sie sich einen beleibten, fast 80 jährigen Herrn vor, der in Socken wie bei einer militärischen Übung am Boden kriegt. Ich denke, das musste für einen Beobachter ziemlich belustigend wirken.

Er hatte es geschafft. Die Blumen hatte er die ganze Zeit nicht aus den Händen gelassen. Er kam barfuss, schwarz vom Schlamm und erschöpft nach Hause. In Händen die gelben Blumen für meine Mutter. Er liebt sie sehr.

Die Gummistiefel hat der Schlamm geschluckt. Wahrscheinlich als Bezahlung für die Blumen. Und meine Mutter war sehr froh, dass sie meinen Vater heil wieder zurückhatte.

One thought on “Vergessener Hochzeitstag

  1. […] Das Begräbnis war schlimm. Offensichtlich kannten und schätzten ihn so viele Leute, dass die Stühle in der Abdankungshalle nicht ausreichten. Viele Leute, die sich von ihm das letzte Mal verabschieden wollten, mussten stehen. Der Platz war knapp und all die mitgebrachten Blumen, die rund um seinen Sarg gelegt wurden, wirkten wie eine bunte, farbige Wiese. Als das erste Musikstück, nach dem ich meine Rede halten sollte, zu spielen begann, musste ich mir die Lippen blutig beissen in der Hoffnung, dass der Schmerz die Trauer und die in mir aufsteigenden Tränen besiegen würde. Es ist mir eher schlecht als recht gelungen. Noch nie in meinem Leben ist mir eine Rede so schwergefallen. Wenn meine Mutter nicht da gewesen wäre, die sich wünschte, dass ich diese Rede halte, wäre ich wie ein Feigling weggelaufen. Der Schmerz war unerträglich. Irgendwie habe ich es doch noch geschafft, mich zu erheben, nach vorne zu gehen und meine Rede vorzutragen. Jan hätte sich sicher nicht gewünscht, dass ich eine traurige Rede halte. So habe ich einige der Geschichten erzählt, die er mir selber erzählte hatte, wie diese hier vom vergessenen Hochzeitstag. […]

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